Montag, 9. Oktober 2017

Persönlichkeitstheorie - Psychodynamische Persönlichkeitstheorien:Therapeutische Aspekte: Neurose und Psychoanalyse

Das dritte Phänomen, an dem sich die Wirksamkeit des Unbewussten manifestiert als Konflikt zwischen Primär- und Sekundärvorgang, ist die Neurose. Wir behandeln zwei Themen:
- die Definition der Neurose
- die Psychoanalyse als Therapie der Neurose

(A)
Definition der Neurose

"Die Symptome der Neurosen sind ... entweder Ersatzbefriedigung irgendeines sexuelle Strebens oder Maßnahmen zu ihrer Verhinderung, in der Regel Kompromisse von beiden". Freud unterscheidet zwei Hauptformen:
(1) Aktualneurosen oder Organneurosen,
(2) Übertragungsneurosen oder Psychoneurosen oder Konversionsneurosen.

Zu (1): Aktualneurose oder Organneurose sind entstanden durch starke aber unspezifische Affektwirkungen auf das vegetative  System in einem aktuellen Konflikt. Als Ursachen kommen in Betracht:
- Hemmung oder Erschöpfung der Sexualfunktionen, begünstigt durch die Konsitution,
- aber auch toxische Schäden, die lange nachwirken.

Diese Neurosen sind der Analyse und Therapie unzugänglich, weil die Hemmung/Erschöpfung der Sexualfunktionen nicht in einem psychischen Erlebnis gründet, sondern in einem gesundheitlichen Schaden. Ihre Heilung ist eine medizinische, keine psychologische Aufgabe. Aber die Störung kann sich in zwei Richtungen auswirken: Sie kann die "sexuelle Spannung" zu weit absenken, sie kann die "sexuelle Spannung" aber auch zu stark erhöhen. - Drei Beispiel:
In der Neurasthenie (Nervenschwäche) sinkt die Spannung so weit ab, dass die Sexuallust gleichsam erlischt.
In der Angstneurose oder in der Hypochrondrie steigt die Spannung so hoch an, dass die Sexuallust übermächtig anschwillt.

Zu (2): Übertragungsneurosen oder Psychoneurosen oder Konversionsneurosen entstammen sexuellen Erfahrungen, bei denen es nicht gelang, die Errgung adäquat "abzuführen". Es entwickelt sich ein chronischer Triebkonflikt. Als Ursachen kommen in Betracht:
- sexuelle Traumata in früherer Kindheit,
- Verdrängungen, wobei die Vorstellung verdrängt wird, der Affekt aber erhalten bleibt.

Diese Traumata und Verdrängungen können sich beziehen auf
- reale Erlebnisse eines Kindes (etwa die Beobachtung eines Koitus der Eltern),
- reine Phatasiegebilde (etwa die Vorstellung einer Verführung)
- schließlich eine Mischung aus beidem.

Weil diese Neurosen einen psychischen  Ursprung haben, sind sie der Analyse und Therapie zugänglich. Drei Beispiele:

In der Hysterie kommt sexuelle Erregung zur Geltung, die nicht zugelassen wird. Hysterie entstammt der Zeit, in der das Genitale eine Rolle spielt, also der ödipalen Phase, sowohl beim Mann wie auch bei der Frau. Bei der Frau tritt die Hysterie aber exemplarischer hervor.

"Was uns an der Phobie der Neurotiker befremdet, ist überhaupt nicht so sehr der Inhalt als die Intensität derselben. Die Angst der Phobien ist gerade zu inapellabel! Und manchmal bekommen wir den Eindruck, als ängstigten sich die Neurotiker gar nicht vor denselben Dingen und Situationen, die unter gewissen Umständen auch bei uns Angst hervorrufen können, und die sie mit denselben Namen belegen"

"Die Zwangneurose äußert sich darin, dass die Kranken von Gedanken beschäftigt werden, für die sich sich eigentlich nicht interessieren, Impulse in sich verspüren, die ihnen sehr fremdartig vorkommen, und zu Handlungen veranlasst werden, deren Ausführungen ihnen zwar kein Vergnügen bereitet, deren Unterlassung ihnen aber ganz unmöglich ist". Zwänge stehen immer in Zusammenhang mit frühkindlicher Sexualthematik. Beispiel: Ein Klient, der unter Waschzwang leidet, "bearbeitet" in seiner Neurose eine Analthematik.

(B) "Psychoanalyse" als Therapie der Neurose

Was den Ablauf einer Psychoanalyse angeht, so kommt ein Klient jede Woche drei bis fünf Male für etwa eine Stunde zu seinem Therapeuten. Er liegt bei der Behandlung auf einer Couch. Der Therapeut sitzt schweigend hinter ihm und hört ihm zu. Eine Therapie kann ein halbes Jahr dauern, aber auch drei bis vier Jahre. - Die einzelnen Phasen der Therapie seien mit einigen Worten skizziert:

Bewusstmachung: Die Therapie soll dem Klienten seine Traumata bewusst machen. Um diesen Prozess zu beschreiben, benutzt Freud drei Termini: Analyse, Konstruktion und Deutung.

- Analyse: Die Bezeichnung erinnert an den Vorgang, chemische Prozesse zu analysieren. Die Übereinstimmung sieht Freud in der Tatsache, dass Neurosen komplizierte Gebilde sind und der Therapeut dem Klienten die Zusammensetzung der Neurosen aus ihren unerkannten Symptomen und Triebmotiven aufzeigen soll.

- Konstruktion und Deutung: Aus dem Material, das der Klient liefert, soll der Analytiker die Entstehung der Neurose rekonstruieren. Wenn es dabei um Einzelelemente des Neurosesystems geht, spricht Freud von Deutung.

- Ziel: Das Ziel von Analyse, Konstruktion und Deutung ist eine Entwicklung, in der allmählich aus unbewussten Phänomenen bewusste Erlebnisse werden. "Wo Es war, soll Ich werden"

Übertragung und Gegenübertragung: Im therapeutischen Prozess treten zwischen Patient und Therapeut Phänomene auf, die Freud "Übertragung" und "Gegenübertragung" nennt.

- Unter Übertragung versteht er den Wunsch des Klienten, infantile Beziehungen auf den Therapeuten anzuwenden. Es geht um den Versuch, ein früheres Libido-Objekt gleichsam wiederzuerwecken, und zwar in der Person des Therapeuten.

- Der Übertragung des Patienten entspricht auf seiten des Therapeuten die Gegenübertragung: Projektion libidinöser Bedürfnisse des Therapeuten auf den Patienten. Sie kann eine Schwäche sein, sofern der Therapeut auf "unreife" Wünsche des Patienten eingeht. Der Patient erlebt ja nicht "Liebe" neu und ursprünglich, sondern belebt nur frühere Erfahrungen, die er mit seinen Eltern gemacht hat. - Eine Gegenübertragung kann aber auch zur Stärke werden, wenn sie dazu führt, dass sich der Therapeut in besonderem Grade für den Patienten engagiert.

Widerstand und Wiederholungszwang: Wichtigstes Element der therapeutischen Prozesse ist der Widerstand. Jede psychische Erkrankung schließt eine Introversion der Libido ein: Ein Anteil der nach außen gerichteten Libido wird nach innen gewandt. Es ist eine Form von Regression. Wenn dieser "Rückzug" - dieses Versteck der Libido - aufgedeckt werden soll, erhebt sich Widerstand, der drauf abzielt, den vorhandenen Zustand zu erhalten. Der Widerstand kann allen drei Instanzen entspringen: Dem Es, dem Ich, dem Über-Ich.

Grundregel und Abstinenzregel: Für den Verlauf der Therapie gibt Freud zwei Regeln vor.

(1) Psychoanalytische Grundregel: Der Neurotiker soll alles aussprechen, was ihm durch den Sinn geht. Ihm wird dafür unbedingte Diskretion versprochen.
(2) Psychoanalytische Abstinenzregel: Der Therapeut soll sich in der Regel jeder  Aktivität enthalten, er soll nicht eingreifen, sondern schweigend zuhören. Deute- und Interpretationshilfen darf er erst geben, wenn er erkennt, dass der Klient für eine Annahme der Hilfe "reif" geworden ist.

Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: Freud fasst seine Methode in drei Vorgängen gleichsam zusammen: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. - 

(1) Erinnern besagt Bewusstmachen des Vergessenen, Aufheben der frühkindlichen Amnesie, Aufdecken, Entlarven unbewusster Zusammenhänge. -

(2)Wiederholen besagt erneutes Erleben von Emotionen vergangener Ereignisse, z.B. von Träumen. 

(3) Durcharbeiten besagt, dass der Patient seine Problematik immer von neuem durchlebt, die Anlässe erinnert, die Emotionen wiederholt. Der Therapeut soll bei diesem Prozess dem Patienten die "Waffen" entwinden, d.h. er soll seine Widerstände auflösen - oder richtiger: Der Klient soll die Zeit bekommen, sich in seine Widerstände zu vertiefen, sie durchzuarbeiten - und auf diese Weise zu "reifen". Der Therapeut soll nicht versuchen, die Entwicklung zu beschleunigen.

Agieren: In der Psychoanalyse soll sich der Patient vergangene Konflikte psychisch vergegenwärtigen. In diesem Prozess tritt manchmal ein Verhalten auf, das Freud "Agieren" nennt. Was gemeint ist, lässt sich verdeutlichen an "Übertragung und Gegenübertragung". Überließe sich der Therapeut der Gegenübertragung, so erlaubte er dem Patienten, in Realität zu erleben was er nur in der Vorstellung wiederholen soll. Beispiele für Agieren: Kontaktaufnahme zu Angehörigen des Therapeuten, zur Therapiestunde zu spät kommen, Streit am Arbeitsplatz suchen usw.

Ablösung: In seiner Schrift "Die endliche und unendliche Analyse" von 1937 setzt sich Freud mit der Frage auseinander, wie lange eine Therapie dauern soll: Wer nur Symptome zu beseitigen wünsche, könne es bei einer kurzen Therapie belassen. Wer aber eine Charakteranalyse anstrebe, der müsse sich auf eine lange Dauer einstimmen".

Wann soll die Ablösung geschehen? Die Frage lässt sich nur formal bestimmen: Die Ablösung ist dann fällig, wenn das Ziel der Therapie erreicht ist. Das Ziel ist erreicht, wenn die Genuß- und Leistungsfähigkeit des Patienten wiederhergestellt ist. Wenn der Patient genießen kann, ohne zu bereuen, Leistungen erbringen kann, ohne zu versagen, dann darf die Therapie beendet werden.

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