Sonntag, 29. Oktober 2017

Die Konsumgesellschaft - Ihre Mythen, ihre Strukturen

Der Konsum als Zeichensystem

In seinem zweiten Buch, erschienen 1970, richtet Jean Baudrillard, damals noch überzeugter Marxist, den Blick auf die moderne Konsumgesellschaft. Als erster Soziologe sah er im Konsum nicht ein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen. Vielmehr erkannte er darin ein in sich geschlossenes Zeichensystem, eine Art Sprache, mit der Menschen Aussagen über ihre jeweilige Position in der gesellschaftlichen Hierarchie treffen. Ob wir wertvolle Bücher sammeln, Plastikzwerge im Garten aufstellen oder im Bioladen einkaufen – stets teilen wir damit anderen etwas über unseren eigenen sozialen Standort mit. Von klein auf werden wir auf diese symbolische Ordnung konditioniert, wir übernehmen sie und richten uns unbewusst nach ihr aus. Es gibt kein Entkommen aus diesem System, so Baudrillards These: Auch Konsumabstinenz ist nur eine besondere Form von Konsum. Mit bissigem Witz und geradezu prophetischem Gespür beschreibt Baudrillard unsere Welt der Waren und Werbespots, der Shoppingmalls und Fitnesscenter, der Medien- und Freizeitindustrie, die damals ja erst in den Kinderschuhen steckte.

Take-aways


  • Jean Baudrillards Die Konsumgesellschaft ist ein Klassiker der Konsumsoziologie.
  • Inhalt: In der heutigen Gesellschaft dient Konsum längst nicht mehr der Befriedigung von Bedürfnissen. Vielmehr stellt er ein Zeichensystem dar, mithilfe dessen wir unseren sozialen Standort kommunizieren. Niemand kann sich dem entziehen: Auch Konsumverweigerung ist eine Form von Konsum.
  • Als erster Soziologe analysierte Baudrillard Konsum als eigenständiges Zeichen- und Bedeutungssystem.
  • In der Nachfolge strukturalistischer Ethnologen erklärt er Konsum als konstruierten Mythos.
  • Baudrillard veranschaulicht seine Theorie anhand vieler Beispiele aus dem Alltag, der Werbung und den Massenmedien.
  • Die Konsumgesellschaft ist zugleich wissenschaftliche Studie und bissige Polemik.
  • Baudrillards Blick auf die Gesellschaft seiner Zeit ist zutiefst pessimistisch.
  • Baudrillard war zunächst überzeugter Marxist, distanzierte sich später aber vom Marxismus. Diese Abkehr deutete sich in Die Konsumgesellschaft bereits an.
  • Anders als Baudrillards spätere, medientheoretische Arbeiten erhielt Die Konsumgesellschaft außerhalb Frankreichs relativ wenig Beachtung.
  • Zitat: „Der Konsument erlebt sein Distinktionsverhalten als Freiheit, als Wunsch und als Wahl, nicht als Zwang, sich zu unterscheiden und einem Code zu gehorchen.“

Shoppingmalls, Massenmedien und moderne Helden
Konsum, der durch die immer größere Verfügbarkeit materieller Güter und Dienstleistungen hervorgerufen wird, ist heute selbstverständlich. Wir sind weniger von anderen Menschen umgeben als von handelbaren Objekten. Am deutlichsten wird diese Lebensweise am Beispiel der Shoppingmalls sichtbar, in denen Nützlichkeit und Warencharakter der Objekte vertuscht werden. In diesen voll klimatisierten und homogenisierten Konsumstätten bekommt man alles – Kleidung und Kosmetik, Feinkost und Luxusartikel, Schnürsenkel und Flugtickets. Es gibt Cafés und Restaurants, Schundliteratur und anspruchsvolle Bücher, Kinos und Kunstausstellungen: Das gesamte Alltagsleben ist hier im Zeichen des Konsums organisiert. Und nicht nur die Jahreszeiten, auch Arbeit und Geld sind aus diesen künstlichen Welten verschwunden. Waren, die in ihrem Überfluss Glückseligkeit verheißen, erscheinen nicht mehr als Produkt menschlicher Arbeit, sondern – ähnlich wie im magischen Denken primitiver Völker – als Wunder oder Wohltat des Himmels. Und gezahlt wird mit Kreditkarte.

„Um uns herum herrscht heute eine gleichsam fantastische Selbstverständlichkeit des Konsums und des Überflusses; sie wird durch die Vervielfältigung der Dinge, Dienstleistungen und materiellen Güter hervorgerufen, und sie bewirkt eine fundamentale Mutation in der Umwelt der menschlichen Gattung.“ (S. 39)
Auf dieselbe wundersame Weise wie Waren werden heute auch politische, historische und kulturelle Informationen konsumiert. Via Fernsehen erleben wir den Einbruch einer harten, gewalttätigen Außenwelt, einen kurzen Rausch der Realität in unserem banalen Alltag, ohne dass wir vor Ort sein müssen. Die Bilder in den Massenmedien simulieren Teilhabe an der Realität und halten diese zugleich auf Distanz. Es ist geradezu obszön: Kriege, Katastrophen, Unfälle werden uns in Raumtemperatur serviert, wodurch wir unsere eigene Seelenruhe und Sicherheit noch intensiver erfahren und genießen können. Medial aufbereitete, zwischen Werbeblöcken in homöopathischer Dosis konsumierte Gewalt hilft uns, die Angst vor der Zerbrechlichkeit unseres befriedeten Alltagslebens zu bannen.

„Die Opulenz, der ‚Überfluss‘ ist in der Tat nur eine Akkumulation der Zeichen des Glücks.“ (S. 48)
Verschwendung, nicht Nützlichkeit ist das Leitmotiv unserer Wachstumsgesellschaft. Die Hinfälligkeit der Konsumobjekte ist einkalkuliert, ob nun durch technologische „Sabotage“ oder durch die Diktatur der Mode, die, was gestern noch neu war, heute schon als veraltet erscheinen lässt. Die Konsumgesellschaft ist auf Zerstörung angewiesen, nur durch die Produktion von immer Neuem kann sie sich erhalten. Dementsprechend zeichnen sich die Helden der Konsumgesellschaft, wie sie im Fernsehen und in Magazinen gefeiert werden, durch einen exzessiven Lebenswandel und einen ebenso maß- wie nutzlosen Luxus aus.

„Der Konsument erlebt sein Distinktionsverhalten als Freiheit, als Wunsch und als Wahl, nicht als Zwang, sich zu unterscheiden und einem Code zu gehorchen.“ (S. 90)

Die soziale Logik des Konsums
Die zunehmende Nivellierung der Einkommens- und Konsumniveaus in unserer Gesellschaft verschleiert die fortbestehende politische und soziale Ungleichheit. Die verbreitete Ansicht, Wachstum und Wohlstand für alle beförderten die Demokratie, ist falsch. Überfluss ist nur ein Alibi, um das Überleben von Klassenprivilegien und -herrschaft zu sichern. Soziales Ansehen, Wissen und Macht sind nach wie vor wesentlich, nur dass sie sich nicht mehr schlicht in Reichtum, sondern auf subtilere Weise ausdrücken – etwa durch Zugang zu sauberer Luft und Natur, Ruhe und Erholung, also zu Ressourcen, die in unserer Gesellschaft zur Mangelware geworden sind.

„Es ist also nicht richtig, dass die Bedürfnisse Ergebnis der Produktion sind, vielmehr ist DAS SYSTEM DER BEDÜRFNISSE DAS PRODUKT DES PRODUKTIONSSYSTEMS.“ (S. 109)
Konsum dient nicht dazu, Bedürfnisse zu befriedigen; vielmehr ist er ein Mittel, sich von anderen zu unterscheiden. Der Konsumierende zeigt seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder grenzt sich von einer anderen ab. Er denkt, er sei frei in seiner Wahl, aber er gehorcht einem aufgezwungenen Wertekodex. Die Zeichen, durch die sich die privilegierten von den mittleren und unteren Schichten abgrenzen, sind heute nicht mehr Autos oder Fernseher, sondern etwa Universitätsbildung und eine gehobene Wohnlage im Grünen. Distinktionszeichen verlieren an Wirksamkeit, sobald sie für immer breitere Schichten erreichbar werden. Die oberen Klassen sehen sich gezwungen, durch andere seltene Objekte erneut den sozialen Abstand zu markieren – was den Konsum trotz aller scheinbaren Bedürfnisbefriedigung stetig anheizt. Das System gibt zwar vor, für die Bedürfnisse der Menschen zu produzieren, tatsächlich aber produziert es für den eigenen Erhalt.

„Der Konsum ist heutzutage erzwungen und institutionalisiert – nicht als Recht oder als Vergnügen, sondern als Bürgerpflicht (…)“ (S. 117)
Der von manchen Wirtschaftstheoretikern verbreitete Gemeinplatz, das System schaffe mittels Werbung erst das Bedürfnis nach Produkten, die es produziert, führt in die Irre. Eine Waschmaschine dient durchaus als Gerät, doch zugleich als Symbol für Komfort und Prestige. Als solches ist sie durch alle möglichen anderen Objekte ersetzbar. Konsum beruht nicht auf dem Bedürfnis nach einem bestimmten Objekt, sondern auf dem Bedürfnis nach sozialer Unterscheidung, das niemals vollständig befriedigt werden kann. Mitten in der Überfülle erzeugt das System die Vorstellung von einer Knappheit immer neuer materieller und kultureller Distinktionsgüter und heizt so die permanente Jagd nach diesen an – mit gravierenden Folgen für die Umwelt.

„Der moderne Mensch verbringt immer weniger Lebenszeit mit der Produktion im Rahmen seiner Arbeit, mehr und mehr ist er mit der Produktion und steten Innovation seiner eigenen Bedürfnisse und seines Wohlbefindens beschäftigt.“ (S. 117)

Der Zwang zur Differenzierung
Beim Konsum geht es also gar nicht um den Genuss eines Produktes oder einer Dienstleistung. Konsum ist ein von der Realität unabhängiges System von Zeichen und Bedeutungen, ein in sich geschlossenes Kommunikationssystem, eine Art Sprache, die Auskunft über sozialen Status und Prestige gibt und an der sich jedermann unbewusst orientiert. So ist etwa der Schreibtisch des Firmenchefs antik und derjenige des leitenden Angestellten funktional. Dass der Konsum allein der Herstellung von Differenz dient, erklärt auch das verbreitete Phänomen des Tiefstapelns: Um sich gegen die arrivierte Mittelschicht abzugrenzen, pflegt die Oberschicht oft eine Art Unterkonsum. Doch diese bewusste Schlichtheit und Bescheidenheit ist nur ein zusätzlicher Luxus und fügt sich perfekt in die soziale Logik des Konsums ein. Selbst die Konsumverweigerung ist also bloß eine Form von Konsum.

„Im Sortiment des Konsums gibt es ein Objekt, das schöner, wertvoller und großartiger ist als alle anderen – mit noch mehr Konnotationen befrachtet als das Auto, obwohl dieses doch schon sämtliche auf sich vereint: Dieses Objekt ist der KÖRPER.“ (S. 189)
Auch wenn es letztlich nicht darum geht, ein Objekt zu genießen, besteht für den Konsummenschen doch eine Pflicht zum Genuss und zum Glück – verstanden als Lösung von Spannungszuständen. Er verbringt immer weniger Zeit mit Arbeit und immer mehr Zeit mit der Erneuerung seiner Bedürfnisse und seines Wohlbefindens. Er hat kein Recht, nicht glücklich zu sein, und ist ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten des Konsums – nicht nur in der Welt käuflicher Objekte, sondern auch auf Gebieten wie Kochen, Kultur, Religion, Wissenschaft oder Sexualität. Es geht darum, die eigene „individuelle“ Persönlichkeit zu finden – ob nun durch eine bestimmte Automarke oder eine optimal zum eigenen Typ passenden Haarfarbe, die möglichst natürlich wirken soll. Es scheint absurd: Nachdem die Person mit ihren einzigartigen Merkmalen und Charaktereigenschaften in der Konsumgesellschaft ausgelöscht worden ist, gilt es nun, die individuelle Persönlichkeit durch Objekte, also durch abstrakte Zeichen, wiederherzustellen.

„Man verwaltet seinen Körper, managt ihn wie einen Vermögensanteil, manipuliert ihn wie einen der zahlreichen Signifikanten des sozialen Status.“ (S. 193)
Die ideologische Funktion des Konsums

Individueller Konsum hat nicht nur eine wirtschaftliche, also produktionssteigernde, sondern auch eine politische und ideologische Funktion. Die bewussten Werte von Gleichheit und Demokratie sind zu schwach und widersprechen zu offensichtlich der Realität, als dass sie die Gesellschaft zusammenhalten könnten. Effektiver sind hier unbewusste Zeichencodes, die die Individuen in ein System von Differenzen einbinden. Die naturgegebenen individuellen Unterschiede werden ausgelöscht und durch künstliche, industriell produzierte Zeichen der Differenzierung ersetzt. Die Menschen sind unbewusst auf diesen Zeichencode abgerichtet, der ihren Ort in der Rangordnung signalisiert und – wie bei primitiven Völkern die hierarchischen und religiösen Rituale – die ganze Gesellschaft zusammenhält. Die Lösung aller gesellschaftlichen Widersprüche besteht heute nicht in der Egalisierung, sondern in der Differenzierung.

„Die Gesundheit ist heute weniger ein an das Überleben gekoppelter biologischer als vielmehr ein an den Status gebundener sozialer Imperativ.“ (S. 205)

Recycling und Simulation
Die Konsumgesellschaft folgt dem Prinzip des Zyklus und des Recyclings – nicht nur in der Mode: So wie man als Bürger der Konsumgesellschaft regelmäßig seine Kleidung, seine Objekte und Autos recycelt, muss man auch im Beruf immer wieder sein Know-how updaten – wobei der Wissensfortschritt angezweifelt werden darf. Check-ups sorgen für medizinisches, Fitness, Diäten und Schönheitspflege für körperliches Recycling. Die Natur wird in Form innerstädtischer Grünflächen oder Naturschutzgebieten recycelt. Das heißt, durch ein Konzentrat von Natur wird die ursprüngliche, längst zerstörte Natur als Simulationsmodell wiederentdeckt. Ähnliches gilt für Kultur, die nicht mehr geschaffen wird, um zu überdauern, sondern wie die Rocklänge oder Fernsehsendungen wechselnden Moden und dem Zwang zur Aktualität unterworfen ist.

„Die Logik der Ware hat sich generalisiert und beherrscht heute nicht mehr nur die Arbeitsprozesse und die materiellen Produkte, sondern die gesamte Kultur, die Sexualität, die zwischenmenschlichen Beziehungen bis hinein in die individuellen Phantasmen und Triebe.“ (S. 281)
Zu den kulturellen Kategorien der Konsumgesellschaft zählt der Kitsch: ein Pseudoobjekt, eine Simulation, die wenig reale, dafür umso größere symbolische Bedeutung hat. Die Fülle von Kitschobjekten hängt eng mit der sozialen Mobilität in unserer Gesellschaft zusammen. Während die privilegierte Klasse zur sozialen Distinktion auf eine geringe Anzahl seltener Objekte (antike Bilder, Luxusausgaben von Büchern, limitierte Anfertigungen von Limousinen) zurückgreift, benötigen die aufsteigenden Klassen massenhaft industriell produzierten Nippes von niedrigem Wert, um ihren sozialen Standort zu markieren. Gegen die Ästhetik der Schönheit und Originalität entspringt eine Ästhetik der Simulation: Gips- oder Plastikkopien wertvoller Originale imitieren Moden und simulieren – ohne jeden realen Nutzen – eine Funktion. Ein anderes Wahrzeichen der Konsumgesellschaft ist das Gadget, der „Schnickschnack“. Diese Art von Pseudoobjekten, oftmals technische Geräte, definieren sich durch ihre Nutzlosigkeit und ihren rein spielerischen Wert.

„Keine Transzendenz mehr, keine Zwecke, kein Ziel: Das Merkmal dieser Gesellschaft ist das Fehlen von ‚Reflexion‘, einer Perspektive auf sie selbst.“ (S. 282)

Körper, Sexualität und Freizeit
Die Konsumgesellschaft ist in allen Bereichen von Zerstörung, Wiederherstellung und Simulation bestimmt. Eine Sache wird zunächst in ihrer Totalität zerstört, um dann in Form von Zeichen künstlich wiederhergestellt zu werden. So wurde der materielle Körper als Ort und Ziel sinnlichen Begehrens zunächst zerstört, um anschließend zum Objekt des Heils, zum narzisstisch besetzten Konsum- und Prestigeobjekt zu werden. Davon zeugt nicht nur die Allgegenwart des (meist weiblichen) Körpers in der Werbung, sondern auch der Jugend- und Schlankheitswahn, der Diät- und Therapiekult sowie die Fülle von Nahrungsergänzungs- und Pflegemitteln auf dem Markt. Der eigene Körper wird verwaltet, gemanagt und als Zeichen des sozialen Status hergerichtet. Vor allem für Frauen herrscht ein absoluter, geradezu religiöser Zwang zur Schönheit, die als Zeichen von Prestige und Heil und zugleich als Kapital zur erotischen Verwertung dient. Sexualität ergibt sich nicht mehr aus Intimität und Sinnlichkeit; vielmehr dient der zunächst entsexualisierte, dann in Form von Zeichencodes wieder künstlich erotisierte Körper im ökonomischen Prozess als wertvolles Tauschmaterial.

Ein weiteres Distinktionsmerkmal in unserer von Arbeitszwang geprägten Gesellschaft ist Freizeit – genauer: die Qualität von Freizeit. Nicht nur Arbeitszeit stellt im Produktions- und Tauschprozess eine Ware dar, auch arbeitsfreie Zeit, die ja angeblich dem Reich der Freiheit angehört, muss heutzutage konsumiert und damit indirekt gekauft werden. Seinen Urlaub muss sich der Urlauber durch Arbeit verdienen, er besitzt ihn wie andere Objekte und hat die Pflicht, ihn zum eigenen Vergnügen und Heil zu nutzen. Man bräunt sich in der Sonne, hakt Länder und Museen ab und zeigt ungetrübte Lebensfreude. Oder man arbeitet in seiner Freizeit – auch dies ein Zeichen von Prestige und ein Privileg von Führungskräften.

Fürsorge, Unterdrückung und das Ende der Transzendenz
In der Konsumgesellschaft wird alles als Dienst am Kunden bzw. Bürger inszeniert, ob es sich um ein simples Stück Seife oder eine staatliche Kranken- und Arbeitslosenversicherung handelt. Der Staat pflegt durch ein soziales Umverteilungsprogramm den Mythos einer solidarischen Gesellschaft, die ganz auf das Wohlergehen des Individuums ausgerichtet ist. Auch im Zusammenleben der Menschen herrscht das Gebot von Solidarität, Herzlichkeit und Nähe. Nach dem Verlust spontaner authentischer Beziehungen erleben wir die zeichenhafte Simulation von Intimität, menschlicher Wärme und Aufrichtigkeit – sei es in der Werbung, sei es im Kontakt mit Bankangestellten, Stewardessen oder Sozialbetreuern. Die Kehrseite der Fürsorglichkeit und des Überflusses aber ist ein kollektiver Zwang, der seinerseits zu Gewalt, Eskapismus und Depression führt. Dabei zeichnet sich unsere Gesellschaft, in der von Kultur über Sexualität bis zu zwischenmenschlichen Beziehungen alles in konsumierbaren Zeichen inszeniert wird, durch einen Mangel an Selbstreflexion aus: Das Individuum ist den Zeichen, die es arrangiert hat, immanent und kann nicht hinter sie treten.

Montag, 9. Oktober 2017

Persönlichkeitstheorie - Psychodynamische Persönlichkeitstheorien:Therapeutische Aspekte: Neurose und Psychoanalyse

Das dritte Phänomen, an dem sich die Wirksamkeit des Unbewussten manifestiert als Konflikt zwischen Primär- und Sekundärvorgang, ist die Neurose. Wir behandeln zwei Themen:
- die Definition der Neurose
- die Psychoanalyse als Therapie der Neurose

(A)
Definition der Neurose

"Die Symptome der Neurosen sind ... entweder Ersatzbefriedigung irgendeines sexuelle Strebens oder Maßnahmen zu ihrer Verhinderung, in der Regel Kompromisse von beiden". Freud unterscheidet zwei Hauptformen:
(1) Aktualneurosen oder Organneurosen,
(2) Übertragungsneurosen oder Psychoneurosen oder Konversionsneurosen.

Zu (1): Aktualneurose oder Organneurose sind entstanden durch starke aber unspezifische Affektwirkungen auf das vegetative  System in einem aktuellen Konflikt. Als Ursachen kommen in Betracht:
- Hemmung oder Erschöpfung der Sexualfunktionen, begünstigt durch die Konsitution,
- aber auch toxische Schäden, die lange nachwirken.

Diese Neurosen sind der Analyse und Therapie unzugänglich, weil die Hemmung/Erschöpfung der Sexualfunktionen nicht in einem psychischen Erlebnis gründet, sondern in einem gesundheitlichen Schaden. Ihre Heilung ist eine medizinische, keine psychologische Aufgabe. Aber die Störung kann sich in zwei Richtungen auswirken: Sie kann die "sexuelle Spannung" zu weit absenken, sie kann die "sexuelle Spannung" aber auch zu stark erhöhen. - Drei Beispiel:
In der Neurasthenie (Nervenschwäche) sinkt die Spannung so weit ab, dass die Sexuallust gleichsam erlischt.
In der Angstneurose oder in der Hypochrondrie steigt die Spannung so hoch an, dass die Sexuallust übermächtig anschwillt.

Zu (2): Übertragungsneurosen oder Psychoneurosen oder Konversionsneurosen entstammen sexuellen Erfahrungen, bei denen es nicht gelang, die Errgung adäquat "abzuführen". Es entwickelt sich ein chronischer Triebkonflikt. Als Ursachen kommen in Betracht:
- sexuelle Traumata in früherer Kindheit,
- Verdrängungen, wobei die Vorstellung verdrängt wird, der Affekt aber erhalten bleibt.

Diese Traumata und Verdrängungen können sich beziehen auf
- reale Erlebnisse eines Kindes (etwa die Beobachtung eines Koitus der Eltern),
- reine Phatasiegebilde (etwa die Vorstellung einer Verführung)
- schließlich eine Mischung aus beidem.

Weil diese Neurosen einen psychischen  Ursprung haben, sind sie der Analyse und Therapie zugänglich. Drei Beispiele:

In der Hysterie kommt sexuelle Erregung zur Geltung, die nicht zugelassen wird. Hysterie entstammt der Zeit, in der das Genitale eine Rolle spielt, also der ödipalen Phase, sowohl beim Mann wie auch bei der Frau. Bei der Frau tritt die Hysterie aber exemplarischer hervor.

"Was uns an der Phobie der Neurotiker befremdet, ist überhaupt nicht so sehr der Inhalt als die Intensität derselben. Die Angst der Phobien ist gerade zu inapellabel! Und manchmal bekommen wir den Eindruck, als ängstigten sich die Neurotiker gar nicht vor denselben Dingen und Situationen, die unter gewissen Umständen auch bei uns Angst hervorrufen können, und die sie mit denselben Namen belegen"

"Die Zwangneurose äußert sich darin, dass die Kranken von Gedanken beschäftigt werden, für die sich sich eigentlich nicht interessieren, Impulse in sich verspüren, die ihnen sehr fremdartig vorkommen, und zu Handlungen veranlasst werden, deren Ausführungen ihnen zwar kein Vergnügen bereitet, deren Unterlassung ihnen aber ganz unmöglich ist". Zwänge stehen immer in Zusammenhang mit frühkindlicher Sexualthematik. Beispiel: Ein Klient, der unter Waschzwang leidet, "bearbeitet" in seiner Neurose eine Analthematik.

(B) "Psychoanalyse" als Therapie der Neurose

Was den Ablauf einer Psychoanalyse angeht, so kommt ein Klient jede Woche drei bis fünf Male für etwa eine Stunde zu seinem Therapeuten. Er liegt bei der Behandlung auf einer Couch. Der Therapeut sitzt schweigend hinter ihm und hört ihm zu. Eine Therapie kann ein halbes Jahr dauern, aber auch drei bis vier Jahre. - Die einzelnen Phasen der Therapie seien mit einigen Worten skizziert:

Bewusstmachung: Die Therapie soll dem Klienten seine Traumata bewusst machen. Um diesen Prozess zu beschreiben, benutzt Freud drei Termini: Analyse, Konstruktion und Deutung.

- Analyse: Die Bezeichnung erinnert an den Vorgang, chemische Prozesse zu analysieren. Die Übereinstimmung sieht Freud in der Tatsache, dass Neurosen komplizierte Gebilde sind und der Therapeut dem Klienten die Zusammensetzung der Neurosen aus ihren unerkannten Symptomen und Triebmotiven aufzeigen soll.

- Konstruktion und Deutung: Aus dem Material, das der Klient liefert, soll der Analytiker die Entstehung der Neurose rekonstruieren. Wenn es dabei um Einzelelemente des Neurosesystems geht, spricht Freud von Deutung.

- Ziel: Das Ziel von Analyse, Konstruktion und Deutung ist eine Entwicklung, in der allmählich aus unbewussten Phänomenen bewusste Erlebnisse werden. "Wo Es war, soll Ich werden"

Übertragung und Gegenübertragung: Im therapeutischen Prozess treten zwischen Patient und Therapeut Phänomene auf, die Freud "Übertragung" und "Gegenübertragung" nennt.

- Unter Übertragung versteht er den Wunsch des Klienten, infantile Beziehungen auf den Therapeuten anzuwenden. Es geht um den Versuch, ein früheres Libido-Objekt gleichsam wiederzuerwecken, und zwar in der Person des Therapeuten.

- Der Übertragung des Patienten entspricht auf seiten des Therapeuten die Gegenübertragung: Projektion libidinöser Bedürfnisse des Therapeuten auf den Patienten. Sie kann eine Schwäche sein, sofern der Therapeut auf "unreife" Wünsche des Patienten eingeht. Der Patient erlebt ja nicht "Liebe" neu und ursprünglich, sondern belebt nur frühere Erfahrungen, die er mit seinen Eltern gemacht hat. - Eine Gegenübertragung kann aber auch zur Stärke werden, wenn sie dazu führt, dass sich der Therapeut in besonderem Grade für den Patienten engagiert.

Widerstand und Wiederholungszwang: Wichtigstes Element der therapeutischen Prozesse ist der Widerstand. Jede psychische Erkrankung schließt eine Introversion der Libido ein: Ein Anteil der nach außen gerichteten Libido wird nach innen gewandt. Es ist eine Form von Regression. Wenn dieser "Rückzug" - dieses Versteck der Libido - aufgedeckt werden soll, erhebt sich Widerstand, der drauf abzielt, den vorhandenen Zustand zu erhalten. Der Widerstand kann allen drei Instanzen entspringen: Dem Es, dem Ich, dem Über-Ich.

Grundregel und Abstinenzregel: Für den Verlauf der Therapie gibt Freud zwei Regeln vor.

(1) Psychoanalytische Grundregel: Der Neurotiker soll alles aussprechen, was ihm durch den Sinn geht. Ihm wird dafür unbedingte Diskretion versprochen.
(2) Psychoanalytische Abstinenzregel: Der Therapeut soll sich in der Regel jeder  Aktivität enthalten, er soll nicht eingreifen, sondern schweigend zuhören. Deute- und Interpretationshilfen darf er erst geben, wenn er erkennt, dass der Klient für eine Annahme der Hilfe "reif" geworden ist.

Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: Freud fasst seine Methode in drei Vorgängen gleichsam zusammen: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. - 

(1) Erinnern besagt Bewusstmachen des Vergessenen, Aufheben der frühkindlichen Amnesie, Aufdecken, Entlarven unbewusster Zusammenhänge. -

(2)Wiederholen besagt erneutes Erleben von Emotionen vergangener Ereignisse, z.B. von Träumen. 

(3) Durcharbeiten besagt, dass der Patient seine Problematik immer von neuem durchlebt, die Anlässe erinnert, die Emotionen wiederholt. Der Therapeut soll bei diesem Prozess dem Patienten die "Waffen" entwinden, d.h. er soll seine Widerstände auflösen - oder richtiger: Der Klient soll die Zeit bekommen, sich in seine Widerstände zu vertiefen, sie durchzuarbeiten - und auf diese Weise zu "reifen". Der Therapeut soll nicht versuchen, die Entwicklung zu beschleunigen.

Agieren: In der Psychoanalyse soll sich der Patient vergangene Konflikte psychisch vergegenwärtigen. In diesem Prozess tritt manchmal ein Verhalten auf, das Freud "Agieren" nennt. Was gemeint ist, lässt sich verdeutlichen an "Übertragung und Gegenübertragung". Überließe sich der Therapeut der Gegenübertragung, so erlaubte er dem Patienten, in Realität zu erleben was er nur in der Vorstellung wiederholen soll. Beispiele für Agieren: Kontaktaufnahme zu Angehörigen des Therapeuten, zur Therapiestunde zu spät kommen, Streit am Arbeitsplatz suchen usw.

Ablösung: In seiner Schrift "Die endliche und unendliche Analyse" von 1937 setzt sich Freud mit der Frage auseinander, wie lange eine Therapie dauern soll: Wer nur Symptome zu beseitigen wünsche, könne es bei einer kurzen Therapie belassen. Wer aber eine Charakteranalyse anstrebe, der müsse sich auf eine lange Dauer einstimmen".

Wann soll die Ablösung geschehen? Die Frage lässt sich nur formal bestimmen: Die Ablösung ist dann fällig, wenn das Ziel der Therapie erreicht ist. Das Ziel ist erreicht, wenn die Genuß- und Leistungsfähigkeit des Patienten wiederhergestellt ist. Wenn der Patient genießen kann, ohne zu bereuen, Leistungen erbringen kann, ohne zu versagen, dann darf die Therapie beendet werden.

Persönlichkeitstheorie - Psychodynamische Persönlichkeitstheorien:Therapeutische Aspekte: "Psychoanalyse" als Heilmethode

In drei Phänomen sieht Freud Auswirkungen des Unbewussten und Zugängen zum Unbewussten:

- In den Fehlleistungen,
- In den Träumen,
- In den Neurosen.

Jedes dieser Phänomene manifestiert die Wirksamkeit des Unbewussten, jedes entspringt einem Konflikt zwischen Primär- und Sekundärvorgang

Der Primärvorgang bezieht sich auf das Unbewusste, er ist nur in Bildern gegeben. Der Sekundärvorgang hingegen stellt sich in Begriffen dar. Wie hängen diese beiden Prozessen zusammen? Für Freud ist eine Antwort deswegen wichtig, weil er in seiner Therapie an die Sprache anknüpft, also an ein logisch begriffliches System, zugleich aber die Bilder des Unbewussten deuten will.

Fehlleistung

"Fehlleistung bezeichnet eine Handlung, deren ausdrücklich angestrebtes Ziel nicht erreicht, sondern durch ein anderes ersetzt wird". Freud zählt unterschiedliche Formen von Fehlleistungen auf.

Versprechen: Das Versprechen ist wohl die bekannteste Form der Fehlleistung. Beispiele:"Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen". Jemand denkt an Vorgänge, die er für schweinisch hält; er sagt:"Und dann sind die Tatsachen zum Vorschwein gekommen."

Vergessen: Vergessen werden Name, Begriffe. Beispiel: Freud erzählt, er selber habe einmal auf dem Bahnhof von Reichenhall eine Fahrkarte lösen wollen. Aber der Name der nächsten großen Bahnstation sei  ihm nicht eingefallen, er habe ihn auf dem Fahrplan suchen müssen. "Er lautet: Rosenheim. Dann weiß ich aber sofort, durch welche Assoziation er mir abhanden gekommen ist. Eine Stunde  vorher hatte ich meine Schwester... besucht; meine Schwester heißt Rosa, also auch ein Rosenheim. Diesen Namen hat mir der "Familienkomplex" weggenommen"

Vergreifen: Freud erzählt, dass er  vor Türen von Patienten seinen Hausschlüssel hervorzog.
Gedankengang: "Hier bin ich zuhause".

Träume und Traumtheorie

Der Traum ist der Königsweg zur Erkenntnis des Unbewussten.

Träume haben zwei Aufgaben: (1) Ein Traum dient der Wunscherfüllung (2) Ein Traum ist Hüter des Schlafes.

Zu (1):  Traum als Wunscherfüllung: Der Charakter der Wunscherfüllung sei illustriert mit einem Beispiel: Ein Mädchen vor dreieinviertel Jahren war auf einem See gefahren."... Die Zeit der Seefahrt war ihr zu rasch vergangen. An der Landestelle wollte sie das Boot nicht verlassen und weinte bitterlich. Am nächsten Morgen erzählte sie: heute Nacht bin ich auf dem See gefahren."

Zu (2): Traum als Hüter des Schlafes: In gewissem Sinne dienen alle Träume dem Bestreben, weiterzuschlafen statt aufzuwachen. Beispiel: Ein junger Student schläft gern lange. "Die Zimmerfrau hatte den strengen Auftrag, ihn jeden Morgen rechtzeitig aufzuwecken, aber auch ihre liebe Not, wenn sie den Auftrag ausführen wollten. Eines Morgens war der Schlaf besonders süß. Die Frau rief ins Zimmer: Herr Pepi, stehen Sie auf, Sie müssen ins Spital. Daraufhin träumte der Schläfer ein Zimmer im Spital, ein Bett, in dem er lag, und eine Kopftafel, auf der zu lesen Stand: Pepi H. ..., cand. med., zweiundzwangzig Jahre. Er sagte sich träumend: Wenn ich also schon im Spital bin, brauche ich nicht erst hineinzugehen, wendete sich um und schlief weiter. Er hatte sich dabei das Motiv seines Träumens unverhohlen eingestanden.

Traumquellen: Freud zählt drei Quellen für Träume auf: (1) rezente Erlebnisse, (2) infantile Ereignisse, (3) somatische Vorgänge.

Zur (1):  Rezente Erlebnisse: Es wird ein einfacher Vorfall erinnert, der dann umgestaltet wird. Beispiel: Eine junge Frau erzählt einen Traum, in dem sie eine Kerze in einen Leuchter steckt. "Die Kerze ist aber gebrochen, so dass sie nicht gut steht." Der reale Anlass war folgender: Das Mädchen "hat gestern wirklich eine Kerz in den Leuchter gesteckt; die war aber nicht gebrochen. Hier ist eine durchsichtige Symbolik verwendet worden. Die Kerze ist ein Gegenstand, der die weiblichen Genitalien reiz; wenn sie gebrochen ist, so dass sie nicht gut steht, so bedeutet dies die Impotenz des Mannes ... Ob nur die sorgfältige erzogene.... junge Frau die Verwendung der Kerze kennt?"

Zur (2): Infantile Ereignisse: Im Traum können Eindrücke aus den frühesten Lebensaltern erscheinen. Beispiel: Ein Mann wollte nach zwanzigjähriger Abwesenheit in seinen Heimatort zurückkehren. "In der Nacht vor der Abreise träumte er, er sei in einer ihm ganz unbekannten Ortschaft und begegne daselbst auf der Straße einem unbekannten Herrn, mit dem er sich unterhalte. In seine Heimat zurückgekehrt, konnte er sich nun überzeugen, dass diese unbekannte Ortschaft in nächster Nähe seiner Heimatstadt wirklich existiere, und auch der unbekannte Mann des Traumes stellte sich als ein dort lebender Freund seines verstorbenen Vaters heraus. Wohl ein zwingender Beweis, dass er beide, Mann wie Ortschaft, in seiner Kindheit gesehen hatte"

Zur (3): Somatische Vorgänge: Freud nennt drei Arten: "die von äußeren Objekten ausgehenden objektiven Sinnesreize, die nur subjektiv begründeten inneren Erregungszustände der Sinnesorgane und die aus dem Körperinnern stammenden Leibreiz". Freud misst diesen Reizen allerdings keine große Bedeutung zu.

Spezielle Trauminhalte: Es gibt "eine gewisse Anzahl von Träumen, die fast jederman in derselben Weise geträumt hat":
- der Verlegenheitstraum der Nacktheit, der exhibitionistische Wünsche ausdrückt.
- der Traum vom Tode teurer Personen, der Todeswünsche gegen Eltern und Geschwister enthält.
- der Prüfungstraum, der Selbstkritik (Du hast nicht alles recht gemacht!)ausdrückt und Trost gewährt.(Es ist ja schon alles vorbei!)

Traumarbeit nennt Freud den Vorgang, bei dem der Träumer aus verschiedenen "Materialien" den manifesten Traum zusammensetzt. Aus der Traumarbeit lassen sich alle Träume erklären, auch die Traum-Entstellungen. Wünsche des Es werden vom Ich nicht offen zugelassen; sie werden darum "entstellt" zu Inhalten, die das Ich zulassen kann. Diese Aufgabe der Zulassung ist Sache des "Zensors" - Zensor verstanden als Anteile des Ichs, die im Traum noch wirksam sind.

Um seinen Effekt zu erzielen, wendet der Zensor verschiedene Mittel an:
- Verschiebung: Sache und Affekt werden getrennt. Beispiel: Eine Dame wird umworben von zwei Männern, kann sich aber für keinen von beiden entscheiden; in einem Traum erlebt sie, dass zwei Züge aus entgegengesetzter Richtung auf sie zufahren.
- Verdichtung: Verschiedene Inhalte werden in ein Bild zusammengezogen. Beispiel: Vor einem Examen träumt ein Student, er gehe einkaufen, Verkäufer sei sein Prüfer, und der verlange einen zu hohen Preis.
-Dramatisierung: Die Traumarbeit verwandelt verschiedene Handlungsstränge in eine gemeinsame Szene. Beispiel: Herr A hat Streit mit der drei verschiedenen Geschäftspartnern; er träumt, dass ihm auf einer Straße ein Pferde-Dreigespann entgegenkommt und ihm den Weg verstellt. - Die Beispiele verdeutlichen, dass sich Verschiebung, Verdichtung und Dramatisierung nicht eindeutig trennen lassen.

Traum-Symbolik: Traumbilder können verschiedenes bedeuten. Unter den sexuellen Traum-Symbolen zählt Freud, unter anderem auf:
- für das männliche Genitale: Turm, Fuß, Pinsel, Schere, Zigarre, Rucksack, usw.;
- für das weibliche Genitale: Höhle, Schale, Eierbecher, Kino, Zimmer usw.
- für das Koitus: Stiegensteigen, Überfahrenwerden, Eindringen in Räume usw.

"Lebe ich also wirklich inmitten von Sexualsymbolen?... Es gibt wirklich Anlass genug zu verwunderten Fragen, und die erste derselben lautet: Woher wir denn eigentlich die Bedeutung dieser Traum-Symbole kennen sollen...? Ich antworte: aus sehr verschiedenen Quellen, aus den Märchen und Mythen, Schwänken und Witzen, aus Folklore, d.i. der Kunde von den Sitten, Gebräuchen, Sprüchen und Liedern der Völker, aus dem poetischen und dem gemeinen Sprachgebrauch. Überall findet sich dieselbe Symbolik vor."

Bei der Trauminterpretation geht es um eine Dechifferierung; die Materialien, welche die Traumarbeit im manifesten Traum zusammengezogen hat, sollen wieder auf die ursprünglichen Bedeutungsgehalte zurückgeführt werden. - Die Assoziationen, die der Klient zu seinen Träumen liefert, dienen dem Zweck, den "Sitz im Leben" des Träumers zu finden. Die Bedeutung der Symbole aus Mythen, Märchen, dient mehr dem Zweck, einen Traum typologisch zu sehen, den Traum systematisch einzuordnen.

Donnerstag, 5. Oktober 2017

Persönlichkeitstheorie - Psychodynamische Persönlichkeitstheorien: Dynamische Aspekte: psychosexuelle Entwicklungsphasen

Die Instanzen Es, Ich, Über-Ich bilden sich in den Entwicklungsphasen. Freud beschreibt sie in seiner Lehre von der Entwicklung der Libido, von den psychosexuellen Entwicklungsphasen. Es geht um eine Beschreibung des Beginns und der Entfaltung kindlicher, jugendlicher Sexualität. Sexuell ist dabei gleichzusetzen mit genital, sondern bezeichnet Aktivitäten, die körperliche Lust entwickeln. Während dieser Entwicklung erstreben unterschiedliche Partialtriebe Lustgewinn an unterschiedlichen erogenen Körperzonen, sie vereinigen sich erst später zu einem Gesamttrieb. - Freud unterscheidet fünf Hauptabschnitte: orale, anale, phallistische, latente, genitale Phase.

In der ersten, der oralen Phase (etwa im ersten Lebensjahr), ist es die Mundzone, welche Lust gewährt. "Das erste Organ, das als erogene Zone auftritt und einen libidinösen Anspruch an die Seele stellt, ist von Geburt an der Mund. Alle psychische Tätigkeit ist zunächst darauf eingestellt, dem Bedürfnis dieser Zone Befriedigung zu schaffen. Diese dient natürlich in erster Linie der Selbsterhaltung durch Ernährung... Frühzeitig zeigt sich im hartnäckig festgehaltenen Lutschen des Kindes ein Befriedigungsbedürfnis, das ... unabhängig von Ernährung nach Lustgewinn strebt und darum sexuell genannt werden darf und soll".

Instanzen-Bildung: Vom Objekt der Mutterbrust hebt sich der Säugling allmählich als Subjekt ab; die Anfänge des Ichs wurzeln in Unterscheidungserlebnissen.

In der zweiten, der analen Phase (etwa von zweiten bis zum dritten Lebensjahr), wird der Anus zur erogenen Zone. Die Ausscheidung wird als lustvoll erlebt, ebenso die willkürliche Beherrschung des Sphinktermuskels, reizvermehrend kommt hinzu die Nachbarschaft der Genitalzone. - In diese Zeit fällt die Sauberkeitserziehung. Dabei sieht sich das Kind mit der Anforderung konfrontiert, zu lernen, wie es Befriedigung abschieben und Kontrolle über triebhafte Bedürfnisse gewinnen könne.

Instanzen-Bildung: In "Abgeben" und "Zurückhalten" verstärken sich Ich-Funktionen, nämlich willkürliche Muskelkontrolle, Orientierung an der Mitwelt, Realitätskontrolle. (Die Ich-Funktion entfalten sich in zwei Richtungen: Das Ich kontrolliert die Realität, aber das Ich wird auch durch die Realität kontrolliert; in ein und demselben Vorgang wird Autonomie erlernt, aber auch Anpassung eingeübt.)

In der nächsten, der phallischen Phase (etwa vom vierten bis zum sechsten Jahr) entwickelt sich das Genitale zur erogenen Leitzone. Entscheidend wird für beide Geschlechter der Phallus, das erigierte männliche Glied. Für den Junge äußert sich die Besitzfreude im Penisstolz, beim Mädchen die Mangelerfahrung im Penisneid. - In dieser Phase entwickelt sich der Ödipuskomplex: verschieden für Junge und Mädchen.

Den Namen entlehnt Freud jener griechischen Sage, nach der Öpidus seinen Vater Laios, König von Theben, getötet und seine Mutter Jokaste geheiratet hatte. Von Öpiduskomplex spricht Freud schon in der "Traumdeutung". Den Sachverhalt entdeckte der in der Selbstanalyse: Jeder Junge ist einmal ein Öpidus, der die Mutter als Partnerin begehrt und den Vater als  Rivalen töten will.

Der Junge erlebt die Mutter als Libido-Objekt, den Vater als Autorität, der den Besitzt des Objektes verbietet. Lösen kann sich dieser Konflikt, indem sich der Junge mit seinem Vater identifiziert und auf diesem Umwege die Mutter besitzen darf. Wird der Öpiduskomplex nicht auf diese Weise bewältigt, sondern verdrängt, entwickelt sich eine neurotische Störung.

Das Mädchen erlebt die ödipale Situation umgekehrt. Sein Liebesobjekt ist der Vater: Weil es sich auch den Penis wünscht (Penisneid), begehrt es den Besitzer eines solchen Organs, den Vater, und lehnt die Mutter als Rivalin um die Aufmerksamkeit des Vaters ab. Durch Identifikation mit der Mutter kann es dem Vater näher kommen.

Instanzen-Bildung: die Identifizierung mit dem Vater (beim Jungen), mit der Mutter (Beim Mädchen) gegründet im Ich das Über-Ich, nämlich "die andere Person" als "Teil der eigenen Person". Ein Stück der Außenwelt wird durch Identifizierung ins Ich aufgenommen, wird Bestandteil der Innenwelt. Diese neue Instanz, das Über-Ich setzt die Funktionen fort, welche die Person der Außenwelt (die Eltern) ausgeübt haben - beobachtet das Ich, bedroht es mit Strafen, bedenkt es mit Lo, gibt also die Linie des Sollens vor und bewertet jede Abweichung von dieser Linie.

Der Phallischen Phase folgt die Latenzphase (etwa vom sechsten bis zwölften Lebensjahr). Sexual- und Aggressionstriebe treten zurück, werden sublimiert, die frei gewordene Energie wird umgelenkt auf den Erwerb vom Wissen. Libido wird von einer Person auf die Idee oder sachliches Objekt verschoben. Diese Versachlichung, eine Desexualisierung, ist der Grund, warum Freud von Latezphase spricht. Die Sexualität verschwindet nicht etwa aus dem Leben, aber die Manifestationen verringern sich.

In der Latenzphase geschieht zweierlei: Erstens die Sexualität wird im Leben sublimiert. Zweitens, der Ödipuskomplex wird zerstört und aufgehoben. Wird der Ödipuskomplex nur verdrängt, dann wirkt er vom Unbewussten her weiter und wird zum Kern vieler (oder sogar aller) Neurosen.

Zugrunde geht der Ödipuskomplex am Kastrationskomplex (richtiger wohl: an der Kastrationsandrohung): Während der Junge fürchtet, der Vater als Rivale könnte ihm den Penis nehmen, stellt sich das Mädchen vor, der Penis sei ihm entfernt worden, darum wünscht es, ihn zurückzubekommen. "Während der Ödipus-Komplex des Knabens am Kastrationskomplex zugrundegeht, wird der des Mädchen durch den Kastrationskomplex ermöglicht und eingeleitet". So bald das Mädchen den Penismangel auf unaufhebbar erkannt hat, gleitet die Libido in eine neue Position - längs der Gleichung "Penis=Kind". Es gibt den Wunsch nach einem Penis auf und setzt an seine Stelle den Wunsch nach einem Kind. Kompensiert wird das Fehlen des Penis dann, wenn die Frau ein Kind zur Welt bringt, besonders wenn es ein Junge ist.

Zum Abschluss kommt die Libidogenese in der genitalen Phase (identisch mit der Pubertät). "Mit dem Eintritt der Pubertät setzen die Wandlungen ein, welche das infantile Sexualleben in seine endgültige normale Gestaltung führen sollen. Der Sexualtrieb war bisher vorwiegend autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt. Er betätigte sich bisher von einzelnen Trieben und erogenen Zonen aus, die unabhängig voneinander eine gewisse Lust einziges Sexualziel suchten. Nun wird ein neues Sexualziel gegeben, zu dessen Erreichung alle Partialtriebe zusammenwirken, während die erogenen Zonen sich zum Primat der Genitalzone unterordnen. Da das neue Sexualziel den beiden Geschlechtern sehr verschiedene Funktionen zuweist, geht deren Sexualentwicklung nun weit auseinander. Die des Mannes ist die konsequentere, eine Art Rückbildung auftritt. Die Normalität des Geschlechtsleben wird nur durch das exakte Zusammentreffen der beiden auf Sexualobjekt und Sexualziel gerichteten Strömungen, der zärtlichen und der sinnlichen, gewährtleistet, vor denen die erste in sich fasst, was von der infantilen Frühblüte der Sexualität erübrigt. Es ist wie der Durchschlag eines Tunnels von beiden Seiten her". Diese Phase dauert bis in das Erwachsenenalter hinein, bis zur Vollendung der Sozialisation.

Resümee zur Instanzenbildung: (1) In der oralen Phase hebt sich vom "Objekt" der Mutterbrust der saugende Säugling allmählich als Ich ab. - (2) In der analen Phase verdeutlichen und verstärken sich in "Abgabe" und "Rückhalt" die Ich-Funktionen als willkürliche Muskelkontrolle und als Orientierung an der Mitwelt, als "Realitätskontrolle". (3) Die Identifizierung mit dem Vater und der Mutter begründet im Ich das Über-Ich nämlich die andere Person als Teil der eigenen Person, die das Sollen steuert. (4) In der Latenz- und in der genitalen Phase gewinnen Ich und Über-Ich schärfere Konturen. Dabei gehen auch "Ansprüche" der Gleichalterigen und der Lehrer oder andere "Vorbilder" mit in das Über-Ich ein und erweitern so seinen Machtbereich.

Charakterprägung während der Entwicklungsphasen

Um von einer Phase erfolgreich in die nächste weiter zu gehen, muss eine Person jeweils einen zureichenden Lustgewinn erzielt haben. So muss ein Kind, das von der oralen in die anale Phase gelangen soll, von seiner mutter eine optimale Menge oraler Befriedigung erhalten haben. Hat es zu wenig oder zuviel Lustgewinn erreicht, so können zwei Konsequenzen eintreten. Fixierung oder Regression.

Wenn das Kind beispielsweise nicht genügend orale Befriedigung erhält, neigt es dazu, an der oralen Phase haften zu bleiben (Fixierung). Ein solcher Mensch kann später orale Chraktermerkmale entwickeln; übermäßige Befriedigung durch Essen, Rauchen, Trinken. Er könnte zuviel reden oder verbale Aggression äußern. - Erlagt ein Kind nicht genügend anale Befriedigung, so könnten sich später Eigenschaften entwickeln wie extreme Ordnungsliebe und Zwanghaftigkeit oder das genaue Gegenteil: Unordentlichkeit (Fixierung auf die anale Entwicklungsphase).

Wenn jemand in einer bestimmten Phase zu viel Befriedigung erhält, könnte er in seinem späteren Lebensalter Verhaltensweisen wieder aufnehmen, die typisch waren für die Phase, in der er verwöhnt wurde (Regression).

Auf diese Weise können die einzelnen Entwicklungsstufen ein Individuum für das ganze Leben prägen.

Kennzeichnet man die Prägungen nach den einzelnen Phasen, so ergeben sich drei Charaktere:
- Oraler Charakter: still, selbstbezogen, im Neurosenbild schizoid, depressiv;
- Analer Charakter: ordnentlich, sparsam, geizig, trotzig, pedantisch, ehrgeizig, im Neurosenbild zwanghaft;
- phallischer Charakter: kämpferisch, freiheitsdurstig, rücksichtlos, im Neurosenbild hysterisch.

Dienstag, 3. Oktober 2017

Persönlichkeitstheorie - Psychodynamische Persönlichkeitstheorien: Dynamische Aspekte: Abwehrmechanismen

In Zusammenhang mit der Trieblehre lassen sich die Abwehrmechanismen als wichtiger Teil der Psychoanalyse vorstellen. Zunächst seien einige Beispiele zitiert, dann sei erarbeitet, welche Gemeinsamkeit die Abwehrvorgänge kennzeichnet.

Projektion: Triebimpulse aus dem Es verlegt das Ich in die Außenwelt, etwa in andere Personen, und bekämpft sie dort. Beispiel: Person A hegt aggressive Wünsche Person B, verlegt sie aber in B und erklärt, dass B gegen A aggressiv sein.

Rationalisierung: Triebansprüche erweisen sich als unerfüllbar, das Ich verdrängt die wahren Motive und schiebt Scheinmotive vor. Beispiel: Ein Mann leidet unter Waschzwang, besonders vor dem Essen. Seine Zwangshandlung begründet er jedoch mit dem Vorwand hygienischer Besorgnis.

Regression, Fixierung: Das Ich wehrt unerlaubte Impulse ab, indem es zu Befriedigungsformen zurückkehrt (regrediert), die einer früheren Entwicklungsstufe zugehören - die besonders dann, wenn das Subjekt an Erfahrungen der früheren Stufe gebunden ist (fixiert bleibt). Beispiel: Ein Mann wehrt sexuelle Konflikte durch  Esssucht ab, er regrediert auf eine frühere Stufe, an die er infolge hoher Befriedigung oder bitterer Versagung fixiert geblieben ist.

Verdrängung: Bedürfnisse aus dem Es werden aus dem Bewusstsein verdrängt, so dass sie nicht mehr vorhanden zu sein scheinen; in Wirklichkeit werden sie nur unerlebbar gemacht. Beispiel: Eine junge Dame kommt nicht auf den Name "Ben Hur". Verdrängt wird der Anklang an "Hure".

Der Begriff Verdrängung steht im Mittelpunkt von Freuds Denken als einer seiner originellsten Begriffe.

Was besagt der Begriff?

Verdrängung  tritt in zweierlei Bedeutung auf: (1) Er fungiert als Oberbegriff , er umfaßt dann alle Abwehrvorgänge. - (2) Er dient als Spezialbegriff und repräsentiert dann eine einzelne Variante der Abwehrvorgänge.

In einer Verdrängung lassen sich im klassischen Fall drei Phasen voneinander abheben:

- Urverdrängung Vorstellungen eines Triebes, weil verboten werden im Unbewussten festgelegt. Beispiel: Exhibitionistische Impulse eines Jungen gelten in seiner Mitwelt als verpönt. Der Junge lässt exhibitionistische Vorstellungen nicht zu.

- Eigentliche Verdrängung: Vorstellungen, die dennoch auftreten, werden dem urverdrängten Impuls nachgeschoben. Beispiel: Der Junge sieht oder vollzieht eine exhibitionistische Schau, verhängt jedoch das Bild.

- Wiederkehr des Verdrängten: Der verdrängte Impuls kehrt in Symbolen, Träumen, Fehlleistungen wieder. Beispiel: Der Junge überträgt den Ekel, der mit der exhibitionistischen Schau verbunden war, auf ein Symbol, etwa eine Wurst - er besetzt die Wurst mit Ekel, er bildet eine Wurstphobie aus. Aus dem  Unbewussten wirkt der verdrängte Impuls weiter als Ekel vor einem Symbol.

Gemeinsamkeit der Abwehrvorgänge

Die Beispiele demonstrieren, dass Abwehrprozesse unterschiedlich verlaufen. Gemeinsam ist allen Prozessen jedoch dreierlei: (1) Die Abwehr entspringt immer der Angst - (2) Abwehrende Instanz ist immer das Ich. - (3) Die ins Unbewusste verschobene Wünsche behalten ihre Dynamik, sie versuchen, auf vielerlei Wegen ihre Befriedigung zu erreichen; solche Versuche manifestieren sich höchst unterschiedlich, bestenfalls etwa im "Vergessen" oder "Versprechen", schlimmstenfalls etwa in einer Neurose.

Aus Angst wehrt das Ich unerwünschte Impulse ab. Die Angst entspringt drei Hauptquellen: Dem Es, dem Über-Ich oder der Realität.

- Abwehr aus Angst vor dem Es: Ein Triebwunsch steigt aus dem Es auf, etwa der Impuls: Ich will meine Mutter besitzen, wie der Vater sie besitzt. Dieser Wunsch weckt Gefühle der Bedrohung, das Ich fürchtet etwa, von dem Impuls überwältigt zu werden (Angst vor Ich-Zerfall), darum  verdrängt es den Triebwunsch ins Unbewusste. Im Unbewussten existiert der Wunsch jedoch weiter, so kann er etwa die Sicht auf Vater oder Mutter verzerren.

- Abwehr aus Über-Ich-Angst: Ein Triebwunsch wird dem Ich bewusst etwa: Ich will mich an meinem Bruder rächen. Das Über-Ich verbietet den Impuls. Das ich fügt sich dem Verbot - Aus Angst vor einer Bestrafung durch das Über-Ich. Das Ich projiziert seinen Impuls auf den Bruder und folgert: "Er hasst mich".

- Abwehr aus Angst vor der  Realität: Die Umwelt weckt in einem Kind das Verlangen: Ich möchte in der Vorratskammer naschen. Das Ich erinnert sich jedoch, dass eine solche Tat in der Vergangenheit von der Realität streng bestraft worden sein. Das Kind unterlässt die Handlung, begründet die Unterlassung jedoch durch Rationaliseren, indem er etwa vorgibt, für Naschereien sei er schon zu alt.

Persönlichkeitstheorie - Psychodynamische Persönlichkeitstheorien: Dynamische Aspekte: Trieblehre

Verhalten kommt in Gang, wenn ein Bedürfnis entsteht. Bedürfnisse entstammen "Trieben". Trieb im Sinne Freuds ist ein Grenzbegriff des somatischseelischen Geschehens. Als Mediziner war er drauf aus, für alle psychischen Vorgänge einen somatischen Ursprung zu finden. Aber sein Triebbegriff ist psychologisch konzipiert.

Triebe umschreibt Freud mit fünf Charakteristika:

- Alle Triebe entspringen einer körperlichen Quelle, z.B. den Hormonen oder bestimmten lustorientierten Körperzonen, sogenannten "erogenen Zonen".

- Triebe haben eine psychische Repräsentanz: emotional einen Affekt (z.B. Angst oder aggressive Wünsche), kognitiv eine Vorstellung (z.B. die angsterregende Gestalt des Vaters).

- Triebe haben ein Ziel: die Handlung, die einen Lustgewinn erbringt, z.B. das Saugen an der Mutterbrust.

- Allen Trieben wohnt ein Drang inne: Gemeint ist das motorische Moment, das sich in der Aktivität des Triebes äußert.

- Triebe haben ein Objekt: nämlich den "Gegenstand", an dem die Befriedigung erlebt wird, z.B. die Mutterbrust.

Das Objekt "ist das Variabelste am Trieb, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet".

Zunächst unterscheidet Freud vier Triebe, später nimmt er nur zwei an.

Zunächst vier Triebe

Der Sexualtrieb bezieht sich auf jede Art Lustgewinn aus Körperzonen. Die gesamte Körperoberfläche kann Lust gewähren, vornehmlich aber die sogenannten "erogenen" Zonen, etwa Mund, Anus, Genitalien. In der Frühzeit der Psychoanalyse galt der Sexualtrieb als die entscheidende menschliche Triebkraft.

Den Selbsterhaltungstrieb setzt Freud gleichrangig neben den Sexualtrieb. Insofern ist seine Trieblehre dualistisch. Sexualtrieb und Selbsterhaltungstrieb bilden keine Gegensätze zu einander.

Neben dem Sexualtrieb und dem Selbsterhaltungstrieb wird als dritte Grundkraft der Destruktionstrieb genannt; er umfasst die Neigung zu zerstören (aus Hass oder aus Gründen der Selbstverteidigung), schließt aber auch den Wunsch ein, lustvolle Erlebnisse zu begrenzen und lebendige Verläufe erstarren zu lassen. - Als ein Repräsentant des Destruktionstriebes gilt der Sadismus, der auch mit dem Sexualtrieb gekoppelt ist.

Der Aggressionstrieb hat zu tun mit Selbst- und mit Arterhaltung, aber auch mit Selbst- und Fremdvernichtung. Sexual- und Aggressionstriebe gelten als Hauptdeterminanten des Erlebens und Verhaltens.

Zuletzt zwei Grundtriebe

"Man kann eine unbestimmte Anzahl von Trieben unterscheiden, tut es auch in der gewöhnlichen Übung. Für uns ist die Möglichkeit bedeutsam, ob man nicht alle diese vielfachen Triebe auf einige wenige Grundtriebe zurückführen könne... Nach langsamen Zögern haben wir uns entschlossen, nur zwei Grundtriebe anzunehmen, den Eros und den Destruktionstrieb... Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so das Ding zu zerstören"

Eros als verfügbare Energie heißt Libido. Jedem Individuum ist ein bestimmtes Quantum an Libido gegeben. Bei Freud bezeichnet Libido die Gesamtheit der Lebenstriebe im Gegensatz zum Destruktions- oder Todestrieb.  Für die Energie des Destruktionstriebes fehlt ein analoger Terminus zu Libido, der Bezeichnung für die Energie des Lebenstriebes.

Vier Triebschicksale

Triebe setzen Verhalten in Gang, sie zielen auf Bedürfnisbefriedigung. Wenn ein Trieb sein Ziel nicht geradenwegs erreicht, kann er es auf Umwegen anstreben - den sogenannten vier "Triebschicksalen":

- Verkehrung ins Gegenteil
- Wendung gegen die eigene Person
- Verdrängung
- Sublimierung.

Die beiden ersten Triebschicksale lassen sich nur in Verbindung miteinander  verstehen, das erste betrifft das Ziel des Triebes (Art der Befriedigung), das zweite das Objekt des Triebes (Gegenstand, an dem die Befriedigung erlebt wird).

Erstes Triebschicksal: Bei der Verkehrung ins Gegenteil geht es um den Übergang von Aktivität in Passivität. Beispiele: (1) Aus Sadismus wird Masochismus, aus einem Täter wird ein Opfer, aus aktivem Quälen wird passives Erleiden. Das Ziel wechselt: Befriedigung wird erlebt im Erleiden statt im Tun - (2) Aus Voyeurismus wird Exhibitionismus, aus Aktivität wird Passivität.

Zweites Triebschicksal: Bei der Wendung gegen die eigene Person geht es um einen Wechsel des Objektes, auf das sich ein Trieb bezieht. Beispiele: (1) Aus dem Sadisten wird ein Masochist. Jemand, der Lust darin findet, eine andere Person zu quälen. Das Objekt wechselt: Statt an der anderen Person wird Befriedigung erlebt an der eigenen Person. - (2) Lustgewinn durch Schau eines fremden Genitales (Voyeurist) wandelt sich in Lustgewinn durch des Zeigen des eigenen Genitales (Exhibitionist).

Meist geht mit den beiden Triebschicksalen ein Wandel des Inhaltes einher, also eine "inhaltliche Verkehrung". Beim Wechsel son Sadismus zu Masochismus wandelt sich ein beispielsweise die Selbstliebe in Selbsthass.

Drittes Triebschicksal: Verdrängung bezeichnet eine Operation, wodurch das Ich versucht, Vorstellungen, die mit einem Trieb gekoppelt sind (Gedanken, Bilder, Erinnerungen) in das Unbewusste abzustoßen. Der Umweg zu einer Befriedigung besteht darin, dass der verdrängte Impuls vom Unbewussten her vielerlei Objekte sucht, an denen er seinen Lustgewinn erreicht. Beispiel: Der fünfjährige Hans hat Angst  vor seinem Vater. Die Vorstellung Vater befreit er von dem Affekt Angst, indem er unbewusst einen Ersatz herstellt: Die Vorstellung des Vaters wird ersetzt durch das Bild eines Pferdes, mit dem Pferd kann die Angst gekoppelt. Hans entwickelt eine Pferdephobie. Befriedigung erlebt Hans, in dem er die Gegenwart des Vaters erträgt, ohne Angst zu fühlen.

Viertes Triebschicksal: Sublimierung ist ein Vorgang, bei dem Energie von sexuellen Zielen abgelenkt und in den Dienst kultureller, wissenschaftlicher, künstlerischer oder religiöser Handlungen gestellt wird, die scheinbar ohne Beziehung zur Sexualität sind.  "Als Sublimierung hat Freud hauptsächlich die künstlerische Betätigung und die intellektuelle Arbeit beschrieben". Beispiele: Der Trieb aus der frühen Kindheit, Kot zu schmieren, wird umgewandelt in die Anregung, ein Gemälde zu erstellen, der Aggressionstrieb umgelenkt in die Arbeit eines Chirurgen; diese Arbeit dem Trieb dann seine Befriedigung. "Der heilige Franciscus von Assisi mag es in der Ausnützung der Liebe für das innere Glücksgefühl am weitesten gebraucht haben"


Persönlichkeitstheorie - Psychodynamische Persönlichkeitstheorien: Struktureller Aspekt

Psycholodynamische Persönlichkeitstheorien betonen: Menschliches Verhalten wird vorrangig bestimmt durch unbewusste Antriebe. Als Vertreter Psychodynamischer Theorie sind u.a. Freud, Adler, Jung, Erikson, Murray bekannt.

Das Konzept des Unbewussten haben Freud, Adler, Jung benutzt zur Erklärung der Seelenvorgänge, sie haben es neu gefasst und immer wieder umformuliert. Erfunden haben sie das Konzept jedoch nicht.

6 Sigmund Freud.:Psychoanalyse


Freuds Lehre heißt Psychoanalyse. Diese Bezeichnung schließt wenigstens drei Behauptungen ein:

(1) Psychoanalyse bezeichnet eine psychologische Methode, also Verfahren zur Untersuchung psychischer Vorgänge wie Träume, Handlungen, Reden

(2) Psychoanalyse bezeichnet eine bestimmte Form der Psychotherapie, also eine Methode zur Behandlung psychischer Störungen, die sich auf die psychologische Untersuchung stützt.

(3) Psychoanalyse bezeichnet ein ganzes System, nämlich die Gesamtheit der psychologischen und psychopathologischen Theorien von Freud, durch welche die Ergebnisse der Untersuchungsmethoden und der psychotherapeutischen Methoden systematisiert werden.

Freud benutzte im wesentlichen drei Informationsquellen:

(1) klinisches Fallmaterial, notiert nach den Sitzungen mit den Klienten
(2) autobiographisches Material (Vor allem aus der Selbstanalyse)
(3) Erscheinungsweisen, Verhaltensweisen, die er erhoben hat
- aus (alltäglichen) Beobachtungen,
- aus Sprichwörtern, Mythen, Märchen, Liedern,
- aus klassischer Dichtung und Trivialliteratur,
- aus ethnographischem Material.

Unsere Darstellung der Psychoanalyse orientiert sich an dem "Abriss der Psychoanalyse", einer Schrift, die Freud 1938 begonnen hat, aber nicht mehr abschließen konnte. Wir bilden fünf Teilkapitel, wir behandeln:
- strukturelle Aspekte: Es, Ich, Über-Ich
- dynamische Aspekte: Die Trieblehre,
- genetische Aspekte: Die psychosexuellen Entwicklungsphasen,
- therapeutische Aspekte: "Psychoanalyse" als Heilmethode,
- Entwicklungen über Freud hinaus.

Struktureller Aspekt - der Seelische Apparat

"Wir nehmen an, dass das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl. "(Freud). Der seelische Apparat lässt sich aufgliedern in drei "Instanzen": in Es, Ich und Über-Ich. (Freud spricht auch von drei "Provinzen").

Das Es

Das Es ist die älteste Instanz des Individuums, das ganze Leben hindurch auch wichtigste. "Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das Es; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konsitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden" (Freud)

Den Ausdruck "das Es" führt Freud 1923 ein, in dem Werk "das Ich und das Es". Den Terminus übernimmt er von Georg Groddeck, der ihn seinerseits von Nietzsche übernommen hat. Bei Nietzsche bedeutet der grammatikalische Term "Es" das Unpersönliche, das Naturnotwendig in menschen Wesen.

Das Es repräsentiert den energetischen Anteil einer Person. Seine "Inhalte" sind psychischer Ausdruck der Triebe, diese Inhalte bleiben unbewusst: Zum Teil sind sie angeboren, zum Teil erworben aus Verdrängungen.

"Das einzige Streben dieser Triebe ist nach Befriedigungen, die von bestimmten Veränderungen an den Organen mit Hilfe von Objekten der Außenwelt erwartet wird. Aber sofortige und rücksichtslose Triebbefriedigung, wie sie das Es erfordert, würde oft genug zu gefährlichen Konflikten mit der Außenwelt und zum Untergang führen. Das Es kennt keine Fürsorge für die Sicherung des Fortbestandes, keine Angst, oder vielleicht sagen wir richtiger, es kann zwar die Empfindungselemente der Angst entwickeln, aber sie nicht verwerten. Die Vorgänge, die an und zwischen den supponierten psychischen Elementen in uns durch bewusste Wahrnehmung in unserem intellektuellen und Gefühlsleben bekannt sind, auch gelten für die nicht die kritischen Einschränkungen der Logik, die einen Anteil dieser Vorgänge als unstatthaft verwirft und rückgängig machen will".

Was meint Freud, wenn er von den sogenannten Primär - und Sekundärvorgängen spricht?

Der Primärvorgang ist mit dem Es gegeben, er begleitet menschliche Erfahrung das ganze Leben hindurch mit. Er funktionierit überwiegend bildhaft, orientiert sich nicht an den Regeln der Syntax oder der Logik, kennt kein Zeitgefühl.

Der Sekundärvorgang dagegen entwickelt sich allmählich während der ersten Lebensjahre, er kennzeichnet die Funktionen des reifen Ichs. Er arbeitet überwiegend mit Begriffen, orientiert sich an den Regeln der Syntax oder der Logik und ordnet Begriffe und Vorstellungen am Zeitablauf.

Resümee zum Es: Das Es ist ein Sammelbegriff für:
- alles, was ursprünglich und archaisch ist,
- alles, was von innen drängt und treibt,
- alles, was in der Körperkonstitution gründ: alle Bedürfnisse;
- alles, was unbewusst und unpersönlich ist, einschließlich der Verdrängungen.

Nicht zum Es gehören:
- moralische Wertungen,
- Fürsorge und Angst.

Das Ich

Ursprünglich umfasste das Es alle Funktionen des Organismus, dann gliederte sich eine Einzelfunktion aus."Unter dem Einfluss der uns umgebenden realen Außenwelt hat ei Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs"

Dies ist eine Ableitung der Genese des Ichs: es ist ein adaptiver Apparat, ausgegliedert vom Es im Kontakt mit der Umwelt.

Es gibt eine andere Ableitung, nach der das Ich ein Ergebnis von Identifizierung ist. In der Identifizierung mit der Mutter, in der Identifizierung mit dem Vater bildet sich das Ich als Subjekt aus: Das Ich erlebt sich als eigenständiges Handlungszentrum, es hebt sich von den anderen Personen als ein selbstständiges Subjekt ab. Diesem selbstständigen Subjekt wendet das Ich einen Teil seiner Liebe zu - es handelt sich um eine Form der  Selbstliebe, um den sogenannten "Narzismus"

Insofern bezeichnet das "Ich" zwei Funktionssysteme:
- Das Ich ist eine psychologische Instanz in Abhebung von Es und Über-Ich
- Das Ich ist ein Subjekt im Gegenüber zu anderen Personen, die ihm als "Objekte" gegenüberstehen

Freud setzt das Ich weitgehend mit dem Bewusstsein gleich, aber nicht vollständig. Das Ich ist nicht bruchlos vom Es getrennt. Pointiert gesagt - es ist die differenzierteste Form des Es. Darum besitzt das Ich auch eine unbewusste Komponente, die sich bei der Analyse zeigt, wenn der Patient Verdrängtes nicht äußern kann, weil er Widerstand aus dem Ich empfindet, ohne ihn benennen zu können. "Wir haben im Ich selbst etwas gefunden, was auch unbewusst ist... das heißt, starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewusst zu werden."

Das Ich hat Beziehungen zur Außenwelt und zur Innenwelt.

Nach Außen gilt: "Infolge der vorgebildeten Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das Ich die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität).

Nach innen gilt: Das Ich behauptet sich "nach innen gegen das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt".

Resümee zum Ich: Das Ich betrifft:
- die Wahrnehmungsvorgänge
- die willkürliche Motorik
- das Gedächtnis
- die Reizbeantwortung
- die Herrschaft über die Triebansprüche
- die Verschiebung der Befriedigung auf günstige Zeiten und Umstände

Alle Aufgabe des Ichs lassen sich unter zwei Stichworten zusammenfassen, die nicht disjunkt trennbar sind: Aufgabe des Ichs ist die "Realtitätsprüfung" und die "Triebregulierung"

Das Über-Ich

Wie das Ich aus dem Es ensteht, so bildet sich aus dem Ich eine neue Instanz, das Über-Ich. In ihm setzt sich der elterliche Einfluss und die Tradition des Volkes, der Rasse, des Glaubens gleichsam in das Innere einer Person hinein fort.

"Ein Stück der Außenwelt ist als Objekt, wenigstens partiell, aufgegeben und dafür (durch Identifizierung) ins Ich aufgenommen, also ein Bestandteil der Innenwelt geworden. Diese neue psychische Instanz setzt die Funktion fort, die jene Personen der Außenwelt ausgeübt hatten, sie beobachtet das Ich, gibt ihm Befehle, richtet es und droht ihm mit Strafen, ganz wie die Eltern, deren Stelle es eingenommen hat. Wir heißen diese Instanz das Über-Ich, empfinden sie in ihren richterlichen Funktionen als unser Gewissen. Bemerkenswert bleibt es, dass das Über-Ich häufig eine Strenge entfaltet, zu der die realen Eltern nicht das Vorbild gegeben haben. Auch dass es das Ich nicht nur wegen seiner Taten zur Rechenschaft zieht, sondern ebenso wegen seiner Gedanken und unausgeführten Absichten, die ihm bekannt zu sein scheinen".

Die neue Instanz entsteht durch Kritik am Ich. Statt vom Über-Ich spricht Freud darum zuerst vom "Ich-Ideal". Erst später führt er den Terminus "Über-Ich" ein. Meist gibt er beiden Benennungen dieselbe Bedeutung, zuweilen verwendet er sie aber auch in verschiedenem Sinn.

Das Über-Ich hat drei Funktionen:

- Das Über-Ich ist Bedingung des Gewissens: Es gibt eine psychische Instanz, welche die Wirklichkeit des Ichs am Ich-Ideal misst - das Gewissen. Es präsentiert die internalisierten Normen der Eltern, überhaupt der Mitmenschen und der weiteren Öffentlichkeit. Funktion des Gewissens ist es, an diesem internalisierten Bild, dem "Ideal", das tatsächliche Verhalten des Ichs zu prüfen.

- Das Über-Ich ist die Bedingung der Verdrängung. Eine Verdrängung hat einen Grund in der Selbstachtung des Ichs. Der Mensch baut ein Ideal auf, an dem er sein aktuelles Ich misst. Weil aber das aktuelle Ich den Anforderungen des Über-Ichs oft nicht entspricht, das Ich aber aus Selbstachtung eine Übereinstimmung einfordert, wird der nicht entsprechende Teil ins Unbewusste verdrängt.

- Das Über-Ich als Bedingung der Sublimierung: Die Idealisierung, vorgenommen bei der Über-Ich- oder der Ideal-Bildung, betrifft die Beziehung zum eigenen Ich und die Beziehungen zu anderen Personen. Der Überschuss an seelischer Energie, der in den Beziehungen zum Ich und zu anderen Personen nicht  verbraucht wird, richtet sich auf neue Objekte: auf kulturelle, wissenschaftliche, moralische, religiöse Leistungen. Dieser Vorgang heißt Sublimierung.

Resümee zum Über-Ich: Das Über-Ich

- ist eine verselbstständigte Funktion des Ichs (das Ich unterstellt sich darum der Autorität des Über-Ichs),
- ist eine innere Instanz, die Gewissenfunktionen ausübt (das Ich-Ideal vorwiegend bewusst; das Über-Ich dagegen vorwiegend unbewusst, darum steht es dem Es nahe),
- ist Ersatz für die elterliche Autorität, somit fällt ihm eine relative Autonomie zu.

Beziehungen zwischen Es, Ich und Über-Ich

Das Ich vertritt die Gegenwart, das Es und das Über-Ich die Vergangenheit, das Es die organische, das Über-Ich die kulturelle Vergangenheit. Das Verhältnis zwischen Es, Ich, Über-Ich veranschaulicht Freud in dem Bilde, der Zwerg ich stehe zwischen dem Riesen Es und Über-Ich.

"Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß"

Eine versöhnliche Übereinkunft zwischen den drei Instanzen ist die Ausnahme. Aus Konflikten zwischen ihnen können sich Neurosen entwickeln.



Persönlichkeitspsychologie - Vorläufige Umschreibung des Gegenstandsbereiches der Persönlichkeitspsychologie

1 Individuum, Einzigartigkeit, Persönlichkeit

Individuum bezeichnet für Psychologen die Persönlichkeit unter dem Aspekt des Einzelwesens, mit der Konnotation einer gewissen Autonomie, eines gewissen Maßes an Selbstverfügung.

- Für Philosophen bezeichnet Individuum den Menschen als Einzelwesen, sofern er sich abhebt von der Gesellschaft.

- Für Biologen bezeichnet Individuum das einzelne Lebewesen, in Einzelfällen kann es vorkommen, dass nicht eindeutig zu entscheiden ist, wo eine biologische Einheit beginnt und wo sie endet, so etwa auf niederen Lebensstufen.

Über das Moment der Einzelheitlichkeit schließt das Konzept eine weitere Bestimmung ein: Individum besagt, dass es sich um eine solche Einheit handelt, bei der sich teile als Bestimmungen eines Ganzen zusammenfügen, dass es sich also nicht um ein Aggregat beziehungsloser Elemente handelt, um eine Reihe von Dingen, die beziehungslos nebeneinander stehen Vielmehr weist Individuum oder Individualität implizit auf eie Gazeit hin, die den Teilen vorgegeben ist.

Einzigarigkeit bezeichnet die Persönlichkeit als ein Einzelwesen, das sich als solches nicht vervielfältigen lässt. Einzigartig ist ein Verhaltensmuster, sofern Merkmale nur bei einem Individuum auftreten.

Diesen Sachverhalt kann der Psychologe auf zwei entgegengesetzte Weisen zu beschreiben versuchen.

Die erste Art der Beschreibung stellt ein Individuum dar unter dem Aspekt seiner Vergleichbarkeit mit anderen Individuen. Ein Individuum wird beschrieben mit Merkmalen, die auf viele Individuen zutreffen, das heißt mit generellen Merkmalen: Beispiele sind Intelligenz, Konzentration, Leistungsmotivation. Jedes Merkmal wird dem Individuum in einem bestimmten Ausprägungsgrad zugesprochen (etwa Intelligenz in der Höhe eines Intelligenzquotienten von 117).

Wird die Position eines Individuums auf vielen generellen Merkmalen angegeben, so lässt sich ein Merkmalsprofil erstellen.

Die zweite Art der Beschreibung stellt ein Individuum dar unter dem Aspekt seiner Unvergleichbarkeit, unter dem Aspekt also, unter dem es sich von anderen Individuen unterscheidet. Diesen Dienst leisten spezielle Merkmale. Spzieller Natur in dem gemeinten Sinne sind Merkmale dann, wenn sie nur auf wenige Individuen – nein, wenn sie nur auf ein Individuum zutreffen.Gibt es Beispiele solcher Merkmale? Ja, wiederum: „Intelligenz, Konzentration, Leistungsmotivation“ - aber in diesem Falle so versanden, dass sie nur einem einzigen Individuum zukommen.

Die Beispiele verdeutlichen jedoch: Auch die zweite Art der Beschreibung ist angewiesen auf allgemeine Merkmale; aber sie versucht, die Allgemeinheit so einzugrenzen, dass ein Merkmal im Idealfall – nur auf ein Individuum passt.

Konkrete biographische Angaben, die zu allgemeinen Merkmalen hinzutreten, sollen die „Generalität“ im Einzelfalle beschränken, eingrenzen, einengen. Solange die Merkmale jedoch allgemeine Begriffe bleiben, können sie den Einzelfall nicht erschöpfend beschreiben. Es handelt sich also um einen Versuch, asymptotisch der Einzigartigkeit näherzukommen. - Ein Beispiel ist die Charakterisierung einer Person durch ein Gutachten.

Es haben sich zwei Stichwörter eingebürgert, um die beiden Beschreibungsarten zu unterscheiden:
  • Die erste Beschreibungsart verwendet allgemeine Merkmale; sie heißt nomothetisch. Nomothetisch heißt ein Beschreibungsmodus, der, um Menschen zu kennzeichnen, alleine Gesetzmäßigkeiten verwendet – in unserem Beispiel „allgemeine Merkmale“.

  • Die zweite Beschreibungsart zielt auf spezielle, eng umschriebene Merkmale, sie heißt idiographisch. Idiographisch heißt darum ein Beschreibungsmodus, der den Einzelfall zu erfassen sucht, indem er die dem einzelnen anheftenden Eigentümlichkeiten benennt.

Die Persönlichkeitsforschung insgesamt erscheint weder einseitig idiographisch noch einseitig nomothetisch orientiert. Dagegen stehen einzelne Forscher einem von beidien Polen jeweils näher.

Da Persönlichkeit von den Konzepten Individuum und Einzigartigkeit her bestimmt wurde – in dem Einleitungssatz zu Teil A – Muss nun eigentlich geklärt sein, was der Begriff besagt: Persönlichkeit lässt sich auffassen als der Inbegriff der einzigartigen Verhaltensweisen eines Menschen, die sich in unterschiedlichem Grade als individuell beschreiben lassen; eingeschlossen ist die Vorstellung, dass alle leib-seelischen Vorgänge, alle bewussten oder unbewussten Tätigkeiten, alle Prozesse oder Zustände dieses Menschen sich zu einer Einheit integrieren, dass sie sich auf ein Ich beziehen und – dies sei hinzugefügt – dass sie eine relativ konstante, aber eine dynamische Ganzheit bilden.

Zu den Koonnotationen, vielleicht sogar zu Denotationi von Individuum, Einzigartigkeit und Persönlichkeit gehört die Idee der Selbstorganisation – diese Idee umschreibt ein gewisses Maß an Spontaneität. Diese Eigenart sei zuerst negativ, dann positiv erläutert:

  • Negativ besagt die Spontaneität, dass die Persönlichkeit zwar in Abhängigkeit zu ihrer Umwelt steht, dass sie aber von der Umwelt nicht vollständig festgelegt wird, dass sie auf Umwelt nicht nur reagiert.
  • Positiv besagt die Spontaneität, dass Persönlichkeit von ihrer Umwelt zwar angeregt wird, dass sie ihr Handeln jedoch auch bestimmt, dass Persönlichkeit demnach ein Zentrum bewussten und reflexiven Handelns einschließt.

Empirisch-psychologisch kann Persönlichkeit erforscht und dargestellt werden aufgrund sehr verschiedener Methoden – Methoden, die sich ergänzen, einander jedoch auch ausschließen können. Darum bestimmt die Methodenwahl eine Entscheidung darüber mit, wie Persönlichkeit definiert und theoretisch interpretiert wird. Schon wegen der Vielfalt der Methodenwahlen gibt es in der Psychologie keine allgemein angenommene Definition der Persönlichkeit.

Ebenso vieldeutig wie drei Begriffe „Individuum, Eingenart, Persönlichkeit“ sind auch die Rahmenbegriffe, denen sie zugeordnet sind: „Empirische Wissenschaft“ und „Psychologie“. Ihr Bedeutungshof sei knapp umschrieben.

Empirische Wissenschaft

Wissenschaft beginnt „dort, wo das zuvor Selbstverständliche zum rationalen Problem, zum Gegenstand des systematischen Nachdenkens wird“, dort also, wo ein Mensch nicht nur tätig, sondern auch sein Tun zum Gegenstand des Denkens macht. Gemeint ist jener Vorgang, in dem ein Mensch als Subjekt sein Tun, darin auch sich selbst zum Objekt mach – es geht um Reflexion, die als kritische Tätigkeit das reflektierende Subjekt mit einbezieht.

Zur Wissenschaft gehört System – Zusammenschau und Zusammenstellung. Nicht zur gelegentlich oder zufällig werden Erfahrungen gemacht und geordnet, sondern systematisch und regelhaft werden Erfahrungen fixiert, geordnet, mit den anderen Erfahrungen verglichen. Solche Tätigkeit umfaßt:

  • Klassifizieren, also die Aufgabe, gleiche Gegenstände gleichen Aussageklassen zuzuordnen.
  • Beschreibung korrelativer Zusammenhänge, also die Aufgabe, Aussagen zu formulieren von der Art: „Immer dann, wenn“.
  • Beschreibung kausaler Zusammenhänge, also die Aufgabe, Sätze zu bilden von der Art: „Weil, darum“.
  • Beschreibung finaler Zusammenhänge, also die Aufgabe, Feststellungen zu trefen, die besagen: „Damit, deswegen“.
Als Wissenschaft gilt nicht jede Art von Wissen, das reflektiert und systematisch vorgelegt wird. Als Wissenschaft gilt nur, was von Wissenschaftlern anerkannt wird – Wissenschaft beruht auf intersubjektivem Konsens. „Es scheint mir, dass... die gemeinsamen Züge der wissenschaftlichen Methode sich.... anknüpfen lassen an... die Forderung der Kontrollierbarkeit, …. die Kontrolle durch … Leute, die Urteil haben“.

Was als wissenschaftliche Aussage gelten soll, geht eine Öffentlichkeit an. Wer wissenschaftliche Sätze aufstellen will, muss sie der „Kritik durch andere“ aufsetzen. Diese Forderung beruht auf der Annahme, dass kollegiale Urteile garantiere die Wahrheitsfindung verlässlicher als der individuelle Erkenntnisakt. Einen Sachverhalt dem kritischen Urteil „der anderen“ anzubieten heißt, ihn dem Risiiko des Scheiterns auszusetzen. Methodisch ergibt sich daraus die Forderung, Gegenstände der Wissenschaft „kritisierbar“ zu formulieren.

Persönlichkeitspsychologie versteht sich als empirische Wissenschaft. Die Daten, von denen sie ausgeht, sich demnach Sinnesdaten: dem Auge, dem Ohr, dem Tastsinn usw. zugänglich, oft erst dank der Vermittlung von Apparaten. Wenn diese Daten auf verschiedenen Abstraktionsebenen reflektiert und systematisiert worden sind, der Kritik von „Person mit Urteil“ standgehalten haben, dann müssen sich die konsequenzen wieder in Sinnesdaten nachweisen lassen.

Erhebung von Systematisierung von Sinnesdaten folgt Gesetzen und Regeln, die ihrerseits nicht empirisch zu rechfertigen sind. So müssen Aussagen widerspruchsfrei sein, sie müssen in einem Begründungszusammenhang stehen. Die Regeln, die dieser Forderung zugrundeliegen, lassen sich empirisch nicht mehr „begründen“. Denn jede Aussage über empirisch Sachverhalte stützt sich schon auf solche Regeln und Gesetze, setzt ihre Gültigkeit also voraus.

Manche Sätze, die zuerst nur einem Kreis von Wissenschaftlern bekannt waren, sind Teil des Allgemeinwissens geworden, meist ohne ihren streng wissenschaftlichen Charakter zu bewahren, etwa Sätze der Medizin über Infektion. Als Teil des öffentlichen Gewussten verändern solche Sätze das Leben. Auffällige Auswirkungen auf das Leben hat die Verbindung von Wissenschaft und Technik gebracht: Industrialisierung mit ihrer Auswirkung auf Baustil, soziale Struktur, individuelles und öffentliches Bewusstsein. - Beispiele für die Ambivalenz solcher Auswirkungen sind in unseren Tagen Kernenergie und Atomindustrie.

Psychologie

Psychologie wird umschrieben als empirische Wissenschaft vom Verhalten. Verhalten sind dabei als eine erste Gegebenheit verstanden, ist darum nicht im strengen Sinne definierbar. Wer bestiimmen will, was Verhalten besagt, verweist auf bestimmte Sachverhalte – etwa Sehen, Hören, Wahrnehmen, Problemlösen – und nennt sie Beisiele fr Verhalten.

Charakterisiert wird Verhalten durch seine Öffentlichekeit. Verhalten ist nur, was der Beobachtung zugänglich ist, der intersubjektiven Kontrolle unterworfen. Die Frage, was Verhalten sei, wird damit verschoben zu der Frage hin, was beobachtbar, was intersubjektiv kontrollierbar sei. Psychologie lässt sich dann umschreiben als Wissenschaft von solchen Sachverhalten, die beobachtbar sind, das heißt von Sachverhalten, über die intersubjektives Verständnis herstellbar ist.

Wir rechnen zum Verhalten beides:
  • Was mehreren Beoachtern gleichzeitig zugänglich ist, gleichsam die Außenseite des Verhaltens, aber auch,
  • Was jeweils nur dem einzelnen gegeben ist, also die Erlebnisanteile des Verhaltens, nur erfassbar durch Introspektion, anderen Beobachtern aber mitteilbar durch Äußerung über Erlebtes.

Psychologie umschreiben wir folglich als Wissenschaft vom Verhaltens und Erleben – eine Umschreibung, die das herkömmliche Konzept wiedergeben dürfte.

Jedoch – Die Vielfalt, Gegensätzlichkeit, auch Widersprüchlichkeit dessen, was als Psychologie gilt, wird aus dieser Umschreibung nicht erkennbar. So wenig wie das, was wir Wissenschaft nennen, ist die Psychologie ein einheitliches System. Darum legefn sich einige Abgrenzungen und Ergänzungen nahe.

Psychologie ist die Wissenschaft von jenen Verhaltensaspekten, die innerhalb geschichtlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen als relevant und methodisch erfaßbar erscheinen. Es handelt sich um Verhaltensauschnitte, die in einer gegebenen Epoche als kontrollierbar gelten. Es geht um Verhaltensaspekte, die im Laufe eies bestimmten Entwicklung, aus den verschiedensten Gründen, abgegrenzt wurden – etwa Leistungsverhalten in eienr Leistungsgesellschaft.

Die Psychologie ist weder die einzig mögliche noch die beste Verhaltenswissenschaft – Soziologie und Politologie sind ebenso richtige Verhaltenswissenschaft, von ihnen hebt sich die Psychologie nach Schwerpunkten ab, ist jedoch kaum von ihnen eindeutig abgrenzbar.


Reflexion: Was ist Persönlichkeitspsychologie

Psychologische Aussagen werden gesammelt, die ein Individuum kennzeichnen, sofern es ein einzigartiges Verhalten erkennen lässt, ein Verhalten das über Situationen, die sich ergeben sollen empirisch begründbar sein und - zusammen genommen - ein System bilden, das als Wissenschaft anerkannt wird.

Persönlichkeitspsychologie zielt darauf, Individuen in ihrer Einzigartigkeit zu erfassen. Dieses Ziel schließt den Versuch ein, Individuen voneinander abzuheben. Um diesen Aspekt herauszustellen, wird die Disziplin auch "Differentielle Psychologie" genannt. William Stern hat die Bezeichnung geprägt. Zwischen Individuen, meist Gruppen von Individuen (Etwa Frauen und Männern, Introvertierten und Extraverierten) werden gesetzhafte Differenzen ermittelt und, wenn möglich bebildet.
- Unterschied und Gleichheit lassen sich interindividuell fassen: Individuen oder Gruppen werden mit anderen Individuen oder Gruppen verglichen.

- Unterschied und Gleichheit lassen sich auch intraindividuell verstehen: Verhaltenssequenzen desselben Individuums in einer Situation, zu einem Zeitpunkt werden verglichen mit Sequenzen in anderen Situationen, zu anderen Zeitpunkten.

Sonntag, 1. Oktober 2017

3. Woche: Psychologie der Massen

Gustave Le Bon gilt mit seiner knapp 200 Seiten umfassenden Abhandlung über die »Psychologie der Massen«, die 1895 in Frankreich erschien, gemeinhin als Vater der Massenpsychologie. Ca. 20 Jahre später traf es auch in deutscher Übersetzung den Nerv der mehr oder weniger bürgerlich intellektuellen Kulturpessimisten. Zumindest würde man Le Bon heute wohl in diesem Milieu verorten. Im späteren beeinflussen seine Thesen, die er sehr lesbar, ja fast populärwissenschaftlich, erörtert, u. a. Intellektuelle wie Sigmund Freud, Max Weber, Hannah Arendt und auch Albert Camus.

Le Bon vertritt einen bürgerlich-elitären Konservatismus, der angesichts des beginnenden »Zeitalters der Massen« jeglicher Hoffnung auf sich daraus entwickelnde kulturelle, soziale und politische Fortschritte eine Absage erteilt. Die Masse, wie er sie empirisch beobachtet, ist bar jeder Vernunft. Selbst der Gebildete, der Einzelne, der sich im Alltag vernünftig zu verhalten versteht, wird in dem Moment, wo er Teil einer Masse wird, überwiegend von unbewussten, niederen Instinkten geleitet. Jede sich bildende Masse Mensch ist eine wachsende Ansammlung von Opportunisten. Die Masse nivelliert dabei all ihr geistiges Vermögen auf das niedrigste Niveau. Angesichts gegenwärtiger Massenveranstaltungen (Sport, Kultur, Politik, aber auch Netzwerken) kann man diese Beobachtung noch heute nicht gänzlich leugnen. Doch während sie hier noch harmlos erscheint, wirkt die Tumpheit der Massen in den gesellschaftspolitischen Fragen sehr bedenklich und – wie die Historie mit ihren vielen blutigen Kriegen, Pogromen, Volksverhetzungen belegt – oft sogar mörderisch:

»Die Massen haben nur die Kraft der Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.«

Und an anderer Stelle:

»In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.«

Doch Le Bon versteht Masse nicht allein als den namenlosen Plebs oder diskriminiert sie als dumpfen Pöbel, sondern erkennt dieselben psychologischen Muster auch bei nicht namenlosen Gruppen, wie z. B. Geschworene, Parlamentarier oder Wissenschaftler. Auch wenn Le Bon es vermeidet, explizit sich selbst als gefährdet zu betrachten, so schließt er dies auch nicht aus. Offensichtlich ist jeder gefährdet, und es gibt keine geistige Immunität gegen Mitläufertum.
Der Glaube, verbunden mit der Suggestionskraft einfacher Bilder, und nicht Aufklärung sei die Triebfeder der Massen, lautet die Quintessenz von Le Bon. Und angesichts der doch kläglichen Erfolge eines bislang 250jährigen philosophischen Bemühens, uns aus unsererselbstverschuldeten Unmündigkeit zu führen, kann man dieser Einschätzung nicht vehement widersprechen. Denn auch die heutigen gesellschaftspolitischen Ideologien erweitern nur das Spektrum der Glaubensrichtungen.

»Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir, dass sie namentlich durch Bilder erregt wird. Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfügung, aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen. … Worte, deren Sinn schwer zu erklären ist, sind oft am wirkungsvollsten. So z.B. die Ausdrücke Demokratie, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit u. a., deren Sinn so unbestimmt ist, dass dicke Bände nicht ausreichen, ihn festzustellen. Und doch knüpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben, als ob sie die Lösung aller Fragen enthielten. In ihnen ist die Zusammenfassung der verschiedenen unbewussten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendig.«

Entsprechend ablehnend würde sich Le Bon heute wohl auch über die Schwarmintelligenz äußern:

»Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf. Es hat nicht, wie man so oft wiederholt, die »ganze Welt mehr Geist als Voltaire«, sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die »ganze Welt«, wenn man unter dieser die Massen versteht.«

Le Bon bescheinigt den Massen nicht nur geistlosen Opportunismus, sondern auch Obrigkeitshörigkeit und Duckmäusertum:

»Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflusst. Niemals galten Ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden.« 

(Das lässt einen doch an einige lebende Personen und lupenreine Demokraten denken.)
Würde Le Bon heute auferstehen, könnte er sich vollends bestätigt in den kulturpessimistischen Diskurs des 21.Jahrhunderts einbringen. Die Entwicklung der Medien, besonders die Omnipräsenz und Verfügbarkeit von endlosen Informationen, wäre ihm Erklärung genug für die aktuelle Empörungsgesellschaft:

»Der Erwerb unnützer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel, einen Menschen zum Empörer zu machen.«

Seit an Seit mit Günter Grass & Co. würde er sich nach den guten alten Zeiten sehnen, als Intellektuelle noch überzeugt von ihrer politischen gesellschaftlichen Relevanz waren, und sich im naiven Glauben wähnten, Meinungsbildner zu sein:

»Einst, und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns, wurde die öffentliche Meinung von der Tatkraft der Regierung, dem Einfluss einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen. Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluss eingebüßt, und die Zeitungen spiegeln nur die öffentliche Meinung wider.«

Und er würde mir vielleicht beipflichten, wenn ich behaupte, dass wir heute keine Politiker mehr wollen, die ernsthaft und manchmal schmerzhaft die Zukunft gestalten, sondern nur Verwalter unserer bürgerlichen Komfortzone wählen:

»Und was Staatsmänner anbelangt, so denken sie nicht daran, sie (die Masse) zu lenken, sondern suchen ihr nur zu folgen. Ihre Furcht vor der öffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede Festigkeit.«

Ebenso würde ihn wohl unsere wiederkehrende Enttäuschung über die Mehrheit von Führungskräften verwundern. Denn schon vor über 100 Jahren erkannte er:

»Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im Allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden.«

Ebenso müde oder vielleicht auch süffisant lächelnd könnte er die aktuelle medienkritische Diskussion verfolgen. Ist doch schon zu seiner Zeit klar, dass der heute so gepriesene, unabhängige, aufklärende und Haltung erfordernde Qualitätsjournalismus allenfalls sporadisch und in unauffälligen Nischen aufkeimt:

»Die Presse, die einstige Leiterin der öffentlichen Meinung, hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen müssen. Gewiss, besitzt sie noch eine bedeutende Macht, aber doch nur, weil sie lediglich die Widerspiegelung der öffentlichen Meinung und ihrer unaufhörlichen Schwankungen ist. Sie ist zum einfachen Informationsmittel geworden und hat darauf verzichtet, irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten. Sie geht allen Veränderungen des öffentlichen Geistes nach, sie ist dazu verpflichtet, weil sie sonst Gefahr läuft, durch die Maßnahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren. Die alten, ehrwürdigen und einflussreichen Blätter von ehedem, deren Ansprüche von der vergangenen Generation noch ehrfurchtsvoll wie Weissagungen angehört wurden, sind verschwunden oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden, die von unterhaltenden Neuigkeiten, Gesellschaftsklatsch und geschäftlichen Anzeigen umrahmt sind.«

Und wer glaubt, das Feuilleton bilde eine hoffnungsvolle Ausnahme und könne zumindest noch in elitären Kreisen seinen Einfluss behaupten, dem hat Le Bon schon 1895 vorgehalten:

»Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht, ein Buch oder ein Theaterstück durchzusetzen. Sie kann schaden, aber nicht nützen.«

Wer sich einmal die Mühe macht, Buchempfehlungen in den deutschen Feuilletons mit denen der Amazon-Rezensenten zu vergleichen, kann der Einschätzung nur zustimmen. Wer bis hierhin noch nicht von der zeitlosen Relevanz Le Bons überzeugt ist, lässt sich vielleicht von seinem abschließenden Fazit einnehmen, in dem er uns auch deutlich macht, dass die aktuelle Krise der Staatsfinanzen, die wir historisch so einmalig empfinden, doch einzig nur eine logische Konsequenz unserer besten unter den schlechten, von den Massen getragenen Staatsformen ist. Denn auch nach Ansicht Le Bons erweist sich die parlamentarische Demokratie noch immer als die beste unter allen schlechten Regierungsformen. Sie birgt

»eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich: die übermäßige Verschwendung der Finanzen und die zunehmende Beschränkung der persönlichen Freiheit.«

Letzteres durch die unendliche Zunahme stets einschränkender Gesetzgebung. Und dass die wachsende Verschwendung von Staatsgeldern dann in die uns akut betreffende Finanzkrise führt, ist schon vor über 100 Jahren evident – und wurde schon damals von uns altbekannten Staaten angeführt:

»Das ununterbrochene Anwachsen solcher Ausgaben muss notwendigerweise zum Bankrott führen. Viele Staaten Europas, Portugal, Griechenland, Spanien, die Türkei, sind dabei angelangt, andere werden bald soweit sein. Aber man braucht sich nicht viel darum zu kümmern, da das Publikum ohne großen Widerspruch nach und nach die Kürzung von vier Fünfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Länder angenommen hat. … und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muss man sich damit begnügen, in den Tag hinein zu leben, ohne allzu sehr an das Morgen zu denken, das sich unserer Macht entzieht.«